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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Erstes fiel ihm auf, dass es ganz anders roch. Der trockene Geruch nach Betonstaub wurde von einem kalten, feuchten Geruch nach Erde und Stein verdrängt. Es war genauso dunkel wie auf der anderen Seite, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie sich nicht in einem Behandlungszimmer oder Krankenhauskorridor befanden. Er hatte viel mehr das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu stehen.
    »Tom!«, rief er. »Wo sind wir?«
    Seine Stimme wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. Weit weg tropfte Wasser, langsam und widerhallend.
    »Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich auf das unterirdische Tunnelsystem des Vietcong tippen«, sagte Tom irgendwo im Dunkeln.
    »Du klingst so weit weg. Ich sehe nichts. Ist das Feuerzeug an?«, rief Daniel.
    Es klickte, und die Flamme zischte in der feuchten Luft. Etwa zehn Meter entfernt stand Tom in einem engen Gang mit gewölbter Steindecke. Der Atem dampfte aus seinem Mund.
    »Hast du nicht gesagt, dass hier Menschen sind?«, fragte Daniel.
    Tom zuckte die Schultern.
    »Ich habe die da gesehen«, sagte er und hielt das Feuerzeug an die Wand.
    Da sah Daniel, dass in die Wand waagrechte Nischen eingelassen waren, wie Fächer in einem Regal. Vorsichtig näherte er sich der Nische, die teilweise von Toms ausgestrecktem Feuerzeug erleuchtet wurde.
    Er ahnte, was er sehen würde, er hatte es in Rom und in Paris gesehen, aber der Anblick der bräunlichen Schädel
mit den leeren Augenhöhlen ließ ihn doch nach Luft schnappen. Es war zu dunkel, um in die anderen Nischen zu schauen, aber er wusste, dass dort Skelette lagen, Reihe an Reihe ruhten sie in ihren eingebauten Stockbetten.
    »Die Katakomben«, flüsterte er. »Es gibt sie also wirklich.«
    »Sieht so aus«, sagte Tom und fügte in einem plötzlichen Anfall von rationalem Denken hinzu: »Wir müssen Gas sparen. Schau dich noch mal um. Dann gehen wir im Dunkeln weiter.«
    Daniel zog noch schnell ein paar abgebrochene Stücke Armierungseisen aus dem Betonberg. Wenn sie im Dunkeln gingen, brauchten sie Stöcke zur Orientierung. Er wollte nicht über irgendwelche Hindernisse stolpern.
    Das Feuerzeug erlosch, und sie machten sich ins pechschwarze Dunkel auf, Tom ging voran, Daniel folgte. Mit der einen Hand hielt Daniel sich an Toms Joggingjacke fest, und mit der anderen tastete er mit dem Armierungseisen an der Wand entlang, wo die Skelette nur einen halben Meter entfernt in ihren offenen Gräbern lagen.
    Es klang hell, als Toms Armierungseisen gegen Stein schlug.
    »Was ist da? Geht es nicht weiter?«, fragte Daniel dicht hinter seinem Rücken.
    Tom holte das Feuerzeug hervor, und sie stellten fest, dass der Gang rechtwinklig abbog. Er war jetzt enger und niedriger.
    Das Feuerzeug erlosch wieder, und sie gingen gebeugt weiter durchs Dunkel, Tom hielt sie mit einem frenetischen Gitarrensolo bei Laune. Ab und zu schlug Daniel mit dem Kopf an die Decke. Er schrie, wenn der Stein an seiner Wunde schrappte und das Blut ihm übers Gesicht lief. Tom nahm davon keine Notiz, er ging weiter voran und stieß Imitationen von elektrischen Klängen aus.
    Plötzlich hielt er mitten in einem vibrierenden Jaulen inne.
    »Wieder eine Wand?«, fragte Daniel.
    Tom ging ein bisschen zur Seite, und Daniel sah, warum er stehen geblieben war. Ein Stück weiter vorne leuchtete ein schmaler Streifen Licht.
    »Ich wusste, dass wir irgendwo herauskommen würden«, rief Daniel aus. »Das sieht aus wie ein Tor.«
    Aber als sie sich dem Lichtstreifen näherten, sahen sie, dass es kein Tor war, sondern eine gemauerte Steinwand mit einer senkrechten Spalte.
    »Es ist auf jeden Fall eine Außenwand«, sagte Daniel.
    Er versuchte, durch die Spalte hinauszuschauen. Das Licht war so hell, dass er zunächst geblendet wurde. War das wirklich normales Tageslicht? Er wartete einen Moment, bis die Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, und schaute noch einmal. Aber die Spalte war zu schmal und das Licht immer noch zu hell. Draußen war nur weiße Leere. War es ein Zimmer? Ein leeres Untersuchungszimmer mit weißen Kachelwänden und Leuchtröhren?
    Nein, der kalte Zug aus der Spalte kam aus keinem Zimmer. Und der Duft, der wunderbare frische Duft nach Natur! Da draußen war das Tal. Und die Freiheit.
    Ihm wurde bewusst, wie absurd seine Lage war: das Tal, das er bisher als sein Gefängnis betrachtet hatte, war nun seine Freiheit. Und der Weg dahin führte durch eine zentimeterschmale Spalte. Was für ein Hohn. Er würde hier zusammen mit dem verrückten Tom sterben, sie würden das

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