Himmelstal
Grab mit den anderen Skeletten teilen. Er hielt den Mund an die Spalte und schrie um Hilfe. Es war, als würde er gegen eine Wand schreien. Der Ton kam zu ihm zurück, und er zweifelte, ob jemand ihn hören würde, selbst wenn er direkt vor ihm stünde. Die Öffnung war zu schmal, um einen Laut hinauszulassen.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte Tom angewidert und zeigte auf Daniels blutüberströmtes Gesicht.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Daniel.
Zu seiner Überraschung machte Tom den Reißverschluss seiner Joggingjacke auf und zog sie aus. Danach zog er das Unterhemd aus, und Daniel sah seinen ausgemergelten, haarlosen Oberkörper.
»Was machst du denn?«, fragte Daniel. »Du wirst erfrieren.«
Mit ein paar ruckartigen Bewegungen riss Tom sein Unterhemd in Streifen. Daniel starrte ihn an. Für einen kurzen Moment hatte er den rührenden Gedanken, dass sein Kamerad ihn verbinden wollte. Aber Tom rieb nur ziemlich grob das Blut aus seinem Gesicht und von seinem Kopf.
»Das wird gut«, nickte er und betrachtete zufrieden den blutigen Lappen.
Daniel sank an der Steinwand zu Boden. Er hielt seine Hand in den Streifen Tageslicht, der dünn wie ein Faden ins Dunkel fiel. Er führte Daumen und Zeigefinger zusammen, als wollte er ihn fassen. Mit diesem sinnlosen Spiel brachte er die nächsten Stunden zu, bis ihm so kalt war, dass er seinen Köper kaum mehr spürte. Tom ging im Dunkeln auf und ab, plapperte seinen Unsinn und spielte seine Solos. Daniel hörte ihm nicht mehr zu. Er konzentrierte sich auf den Lichtstrahl, der immer blasser und dünner wurde.
58 Mit einem Krachen stürzte das große Steintor auf die Erde und wirbelte etwas auf, das Daniel zunächst für Staub hielt. Stimmen umgaben ihn, froh und jubelnd. Jemand legte ihm eine Decke um die Schultern und führte ihn hinaus. Er blieb stehen, geblendet, er rieb sich die Augen und blinzelte schlaftrunken, wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht.
Dann verstand er, warum er durch die Spalte nichts hatte sehen können, warum da draußen alles weiß und still war.
Himmelstal war ganz und gar im Schnee versunken. Weiche, flauschige Schichten bedeckten den Tannenkamm oben am Berg, die Hausdächer im Dorf und den Talboden mit dem Wildbach.
Aber wo im Tal befand er sich eigentlich? Verwirrt betrachtete er die schwarzen Zaunspitzen und die schiefen Steinkreuze, die aussahen, als hätte man sie mit Schlagsahne verziert.
»Da hast du aber Glück gehabt«, keuchte eine Wache und lehnte sich erschöpft an eine Zaunspitze. »Dieses Tor sollte eigentlich nicht vor dem Jüngsten Tag geöffnet werden.«
Daniel drehte sich um. Das umgestürzte Steintor lag im Schnee, direkt daneben gähnte die dunkle Öffnung eines kleinen Tempels. Mein Gott, er war auf dem Aussätzigenfriedhof. Das Grabmal. Er war einem Grab entstiegen!
Zwei andere Wachen schoben ihn zu den Transportern, die unten auf der Straße standen.
»Und Tom? Wo ist er?«, fragte Daniel und drehte sich noch einmal zur Graböffnung um.
»Tom?«, fragte einer der Wachmänner erstaunt. »Ist er hier?«
Da tauchte Tom aus dem Dunkel auf. Die Wachen konnten ein erschrockenes Keuchen nicht unterdrücken, als er mit wiegendem Schritt aus der Graböffnung kam, halb nackt, mit geschorenem Kopf, misstrauisch nach rechts und links schauend, wie eine Spukgestalt auf der Flucht aus dem Hades.
Kaum hatten die Wachen sich von ihrem Schreck über die gespenstische Erscheinung erholt, legten sie ihm auch schon Handschellen an, warfen ihm eine Decke über die nackten Schultern und führten ihn zu einem Transporter.
Ein weiterer Transporter kam, und noch ehe er richtig zum Stehen kam, sprang Corinne vom Beifahrersitz. Mit roten Wangen und einer pelzbesetzten Mütze auf dem Kopf stapfte sie durch den Schnee auf Daniel zu. Sie umarmte ihn fest und küsste ihn auf Wangen, Mund und Kinn.
Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete seinen Kopf.
»Das muss man mit ein paar Stichen nähen«, stellte sie fest.
Daniel hätte nie gedacht, dass es so schön sein könnte, in eines der Wachautos zu klettern. Corinne und er setzten sich in das eine Auto. Tom wurde in das andere gebracht.
»Was für ein unglaubliches Glück, dass wir dich aus dem schrecklichen Grab bekommen haben«, sagte sie, als das Auto startete und über die frisch geräumte Straße fuhr.
Sie nahm ihre Pelzmütze ab, rückte an ihn heran und legte ihren Kopf an seinen Hals.
»Werde ich jetzt in die Klinik gebracht?«, flüsterte
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