Himmelstal
wir haben alles selber gegessen, heute hat das Restaurant nichts bekommen. Mein Bruder ist ein wunderbarer Forellenfischer. Ich wollte ihn überreden, noch eine Weile hierzubleiben, damit die Lieferungen ans Res
taurant gesichert sind, aber er will unbedingt weiterreisen.«
»Gefällt Ihnen Himmelstal nicht?« Die Hostess wandte Daniel ihr Puppengesicht zu, und ihr Erstaunen verwandelte sich in ein mitfühlendes Lächeln. »Es ist ein ungewöhnlicher Ort. Aber vielleicht nicht ganz so schlimm, wie Sie erwartet haben?«
»Ich finde es ganz phantastisch«, sagte Daniel wahrheitsgemäß. »Tatsache ist …«
Aber die Hostess war schon wieder Richtung Tür gegangen.
»Gute Nacht«, rief sie noch.
Auch ihr Kollege sagte »Gute Nacht«, und dann waren sie verschwunden.
»Noch einen kleinen Whisky?«, fragte Max.
Ohne auf die Antwort zu warten, füllte er Daniels Glas wieder.
»Nur einen winzig kleinen. Danke, das reicht.«
Max drehte die Lautstärke des Plattenspielers hoch.
»Ich liebe das.«
Eine Weile hörten sie nur der Musik zu. Eine sanfte, entspannte Musik mit originell arrangierten Melodien.
»Es sind Holländer, oder?«
Max stand auf und las unbeholfen und stockend den Namen der Gruppe auf der CD -Hülle. Dann saßen sie wieder schweigend da und nippten an ihrem Whisky.
»Das war ein schöner Tag, nicht wahr?«, sagte Max.
Daniel nickte.
»Ein bisschen wie früher an unserem Geburtstag.«
»Ja. Erster Akt«, sagte Daniel.
Die kostspieligen, sorgfältig geplanten Geburtstagsfeste folgten immer dem gleichen Muster: Wiedersehensfreude, ausgelassene Spiele, die immer wilder wurden und in Streit, Tränen und nicht selten irgendwelchen Unfällen
kulminierten: Sturz von einem Baum, ein falsch geworfener Dart-Pfeil, ein harter Ball am Kopf.
Max lächelte schief.
»Weißt du noch, wie wir von den Schaukeln gesprungen sind, um zu sehen, wer am weitesten kam?«
»Ja, und als ich mich umdrehen wollte, um zu sehen, wie weit du gekommen bist, schlug mir die Schaukel an den Kopf, so dass ich ohnmächtig wurde und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus kam«, sagte Daniel.
»Aber wir hatten auch viel Spaß. Ich weiß gar nicht, warum wir uns so selten sahen«, sagte Max und stand auf.
Er wühlte in seinen großen Shortstaschen, holte etwas hervor und legte es auf den Tisch, es sah aus wie ein zusammengerolltes Seil. Daniel sagte:
»Ich glaube, sie hatten eine Verabredung. Unsere Eltern. Und dann hielt sich der lang angestaute Groll zwischen ihnen.«
»Du hast Glück gehabt, weil du bei unserer Mutter aufwachsen durftest«, sagte Max und brachte weitere Sachen aus seinen Hosentaschen zum Vorschein.
Dann holte er einen Rasierspiegel, stellte ihn auf den Tisch und rückte eine Stehlampe zurecht. Daniel schaute ihm erstaunt zu, sagte jedoch nichts.
»Du hattest es doch auch gut bei Papa, oder?«, sagte er.
»Glaubst du das wirklich?« Max gab ein freudloses Lachen von sich und drehte die Stehlampe so lange hin und her, bis das Licht im richtigen Winkel fiel. »Er hat doch immer nur gearbeitet. Ich bin nicht mit unserem Vater aufgewachsen, sondern mit Anna. Und du weißt doch«, er warf Daniel einen Blick zu und lächelte satanisch – »dass alle Stiefmütter Hexen sind.«
»Schließlich hat Anna dir das Laufen und Sprechen und andere Dinge beigebracht«, wandte Daniel ein.
»Laufen und Sprechen lernen Kinder von selbst.«
»Aber sie hat dir viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Ich erinnere mich, dass sie stundenlang mit Mama telefonierte und von deiner Entwicklung und deinen Fortschritten berichtete. Sie hat sich unglaublich für dich engagiert.«
Max setzte sich an den Tisch. Er betrachtete sein Gesicht im Rasierspiegel, justierte die Lampe und sagte:
»So wie Forscher an Labormäusen interessiert sind, ja. Sie war doch vor allem Wissenschaftlerin.«
»Sie hatte ihre Doktorarbeit in Pädagogik fast fertig, als sie Papa heiratete. Sie hat ihre Karriere aufgegeben, damit sie sich um dich und den Haushalt kümmern konnte«, erinnerte Daniel ihn.
»Pädagogik? Ha!«
Max rollte langsam eines der zusammengezwirbelten Seile auseinander, und Daniel sah, dass es eine Art verdrehter Zopf war. Max löste ihn vorsichtig und fuhr fort:
»Man könnte es eher Dressur nennen. Solange ich alles richtig machte, war sie an mir interessiert. Wenn ich etwas falsch machte, behandelte sie mich wie Luft. Redete kein Wort mit mir. Hat für sich selbst gekocht und gegessen und mich zuschauen lassen. Und wenn
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