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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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ich Krach machte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, dann hat sie mich in einer kleinen Kammer im Keller eingeschlossen. Sie hat auch nie gesagt, was ich falsch gemacht habe, das musste ich selbst herausbekommen.«
    Daniel starrte seinen Bruder erstaunt an.
    »Hat Papa das alles gewusst?«
    Max zuckte mit den Schultern.
    »Er war ja nie zu Hause.«
    Ein stechender Geruch breitete sich in der Hütte aus. Max hatte den Deckel von einer kleinen Flasche abgeschraubt und applizierte nun mit einem Pinsel die durchsichtige Flüssigkeit auf sein Kinn.
    »Hast du ihm nicht erzählt, wie schlecht Anna dich behandelt?«, fragte Daniel.
    Das Lachen, das Max hervorbrachte, klang sehr angestrengt, er reckte den Hals und streckte das Kinn nach oben. Er klebte eine lange Strähne dunklen Haars an seinem Kinn fest, nahm einen Schluck aus seinem Whiskyglas und wandte sich dann wieder Daniel zu.
    »Ich wusste nicht, dass sie mich schlecht behandelte. Ich dachte, ich bin unartig.«
    Max trank seinen Whisky aus. Die langen dunklen Strähnen hingen wie Seegras an seinem Kinn.
    »Kümmere dich nicht darum, wie es jetzt aussieht«, sagte er, als er Daniels kritischen Blick sah. »Warte, bis es fertig ist.«
    Er befestigte die nächste Strähne und fuhr fort:
    »Als ich älter wurde, war sie mir egal. Ich hatte meine Freunde. Ich kam zurecht. Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Vielleicht, damit du mich besser verstehst. Ich musste mir die Rechte nehmen , die für dich selbstverständlich waren. Willst du noch einen Whisky?«
    »Nein danke. Ich geh jetzt schlafen.«
    Auf dem Weg ins Badezimmer warf Daniel seinem Bruder einen belustigten Blick zu.
    »Was soll das denn darstellen, Max? Einen Troll? Einen Hippie mit punktuellem Haarausfall?«
    Max sprang auf, und ehe Daniel die Badezimmertür schließen konnte, hatte er sich hineingedrängt. Er holte einen Rasierapparat aus dem Badezimmerschrank und legte ihn auf den Rand des Waschbeckens. Er deutete auf Daniels Bart und sagte:
    »Bitte sehr.«
    Bevor Daniel etwas sagen konnte, verließ er das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.
    Daniel wusch sich Gesicht und Oberkörper. Der Whisky hatte seine Glieder angenehm betäubt.
    Er dachte darüber nach, was Max über seine Stiefmutter Anna Rupke erzählt hatte. Stimmte das wirklich? In seiner Erinnerung war Anna eine gesunde, rundliche Frau. Stark. Intelligent. Effizient.
    Aus dem Zimmer hörte er immer noch die holländischen Jazzmusiker.
    »Weiß du noch, was du mir versprochen hast?«, sagte Max durch die Tür.
    Hatte er etwas versprochen?
    Er sah Max als kleinen Jungen vor sich. Er stand in der Küchentür, während die große, starke Anna allein am Tisch saß und aß.
    Er putzte sich die Zähne und betrachtete dabei sein Gesicht im Spiegel, spülte den Mund, spuckte aus.
    »Das funktioniert im Leben nicht.«
    Dann nahm er den Rasierer und schaltete ihn an.
    »Das funktioniert im Leben nicht«, murmelte er noch einmal und zog den Apparat über seine Wangen.
    Als er fertig war, blieb er vor dem Spiegel stehen und betrachtete sein nacktes Gesicht. Den Winkel des Wangenknochens zum Kinn, die kleine Vertiefung auf der Oberlippe. Die blasse Haut, da wo vorher der Bart war, die sichtbaren Poren. All das, was so lange Zeit verborgen gewesen war.
    Er ging wieder hinaus zu seinem Bruder, der immer noch am Tisch saß und mit seinem Bart beschäftigt war.
    »Es ist noch nicht fertig«, murmelte Max. »Das dauert. Mach was anderes inzwischen. In meiner Schlafkoje liegt ein Taschenbuch. Es ist gut.«
    Daniel holte das Buch, es war ein amerikanischer Krimi. Er setzte sich in einen der Holzsessel vor dem offenen Kamin und versuchte zu lesen. Nach einiger Zeit verdrängte
die Geschichte des Buchs seine eigenen, beunruhigenden Gedanken, und es war gerade richtig spannend geworden, als Max ihm auf die Schulter tippte.
    Daniel schaute auf.
    Max hatte keine schütteren, zauseligen Strähnen mehr am Kinn. Er hatte einen dichten, vollen Bart, genauso lang und genauso dunkelbraun, fast schwarz wie der, den Daniel sich gerade abrasiert hatte. Er bedeckte den größten Teil seines Gesichts und sah schockierend natürlich aus. Sogar die wenigen kupferroten Haare gab es, man sah sie nur in einer bestimmten Beleuchtung.
    »Ich habe es ziemlich gut hinbekommen, nicht?«
    »Ich bin tief beeindruckt.«
    »Ich habe doch gesagt, es ist Profimaterial. Und du hast es auch gut hinbekommen, finde ich«, fuhr Max fort, mit einem schnellen Blick auf Daniel.

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