Himmelstal
»Für einen ungeübten Rasierer. Keine Blessuren?«
Er fasste Daniels Kinn mit Daumen und Zeigefinger und drehte seinen Kopf hin und her.
»Phantastisch.«
Dann hockte er sich vor den Rasierspiegel und betrachtete sich selbst.
»Die Haare sind natürlich viel zu kurz. Im Theater gab es keine passende Perücke. Und wenn man es nicht perfekt hinbekommt, dann muss man es lassen. Ich werde eine Mütze drüberziehen.«
Max wühlte in einer Kommodenschublade und fand eine gestrickte Wollmütze, die er sich aufsetzte. Er zog sie tief in die Stirn und über die Ohren und schaute sich im Spiegel an. Er war zufrieden.
»Und du meinst nicht, dass eine Wollmütze mitten im Sommer ein bisschen merkwürdig wirkt?«
»Nicht, wenn man als Tourist in den Alpen unterwegs ist, hier kann es richtig kalt werden. Schnee im Juli ist
nichts Ungewöhnliches. Ich würde nie ohne Mütze irgendwo hinaufsteigen.«
Daniel lachte. Das Ganze war so absurd. Und er war ein wenig betrunken und schrecklich müde.
»Ich geh jetzt schlafen«, sagte er. »Und das«, er deutete erst auf Max' und dann auf sein eigenes Gesicht. »Nein, das funktioniert nicht. Aber es ist angenehm, den Bart los zu sein. Du hast recht. Ich sehe ohne Bart besser aus.«
» Wir sehen ohne Bart besser aus«, sagte Max. »Da fehlt noch etwas.« Er fasste in Daniels Haare und zog ihn ins Badezimmer.
»Hast ein bisschen geschummelt?«
Max nahm eine Schere und schnitt damit in die Luft.
»Muss das sein?«
»Natürlich muss das sein.«
Max schnitt Daniels Haare zuerst mit der Schere, dann nahm er den Rasierapparat und fuhr damit über Daniels Schädel, bis er genauso kurz geschoren war wie der seine.
»Okay. Dürfte ich jetzt vielleicht schlafen gehen?«, sagte Daniel und kroch unter die Decke auf seiner Bank. Er schaute noch einmal zu Max hinüber, mit seinem Vollbart und der Wollmütze, und er musste laut lachen.
Er hatte gerade die Brille abgenommen und sich zur Wand gedreht, als Max mit ernster Stimme sagte:
»Bevor du einschläfst, will ich dir noch etwas zeigen.«
Daniel drehte sich seufzend um. Max machte die Stehlampe über Daniels Kopf an, hockte sich dicht neben ihn und hielt ihm ein Foto vors Gesicht.
»Das haben sie mir geschickt, um zu zeigen, wie sie arbeiten.« Max flüsterte so nahe an Daniels Schläfe, dass er seine Lippen fühlen konnte. »Tochter eines Verräters. Siebzehn.«
Daniel setzte die Brille wieder auf und sah ein misshandeltes Gesicht. Die Augen waren zugeschwollen, die Lider
lila und prall wie überreife Pflaumen. Die Unterlippe war in der Mitte aufgeplatzt, Stirn und Wangen waren von langen Wunden gezeichnet. Man konnte sich unmöglich vorstellen, wie sie vorher ausgesehen hatte, aber die langen Haare und der zierliche Hals ließen ahnen, dass sie durchaus schön gewesen war.
»Das wollen sie auch mit Giulietta machen«, zischte Max leise.
»Die Mafia?«
Max nickte schnell, hielt den Zeigefinger vor den Mund und verschwand dann mit dem Foto in seiner Schlafkoje.
Am nächsten Morgen wachte Daniel davon auf, dass die Hostessen an die Tür klopfen und sie gleich darauf öffneten – er hatte sich schon fast daran gewöhnt – und eine fröhliche Stimme zwitscherte:
»Guten Morgen. Gehörst du heute zu den Langschläfern, Max?«
»Mein Bruder kommt gleich. Ich werde ihn wecken«, murmelte Daniel.
Er tastete nach seiner Brille, die er am Abend zuvor neben der Bank abgelegt hatte, aber er fand sie nicht. Er warf die Decke ab und ging zu Max' Schlafkoje hinüber.
»Dein Bruder ist schon abgereist, Max. Er hat das Krankenhaus um sechs Uhr verlassen. Er wollte dich wohl nicht wecken. Vielleicht wollte er ein Flugzeug erreichen? Ich muss jetzt weiter. Das Wetter ist wundervoll. Bis dann!«
Die Tür schlug zu, und kurz darauf hörte Daniel das Klopfen an der Hütte nebenan und die zwitschernde Stimme mit ihrem »Guten Morgen!«.
Daniel ging wieder zur Schlafkoje und zog den Vorhang zurück. Das Bett war ordentlich gemacht.
Er machte die Tür zum Badezimmer auf. Niemand da.
Er schaute nach seinen Kleidern, die er am Abend zuvor über einen der Holzsessel gelegt hatte. Da waren sie nicht mehr. Er suchte die ganze Hütte ab, ohne etwas zu finden. Die Schuhe waren auch weg. Und, das war das Schlimmste, auch seine Brille war spurlos verschwunden.
Ebenso der Koffer. Und sein Necessaire im Badezimmer. Und seine Brieftasche, sein Mobiltelefon und sein Pass. Und die Armbanduhr, die auf dem Tisch gelegen hatte. Sogar seine Zahnbürste
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