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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Stirnband, das aus verschiedenfarbigen Fäden geflochten war und von dem kleine Troddeln herabhingen. Die schmutzige Wildlederjacke und die Cowboystiefel behielt er an. Er beugte sich vor, machte eine Stehlampe an und begann, mit einem Messer an der halbfertigen Baumstumpfskulptur zu schnitzen.
    »Sie machen schöne Sachen«, sagte Daniel.
    Er wartete einen Moment, und als er keine Antwort bekam, fuhr er fort:
    »Kennen Sie jemanden, der mich zu einer Busstation oder einem Bahnhof fahren kann? Ich bezahle natürlich.«
    Der Mann war offenbar zu sehr in seine Arbeit versunken, um antworten zu können. Daniel wartete schweigend ab. Als der Mann mit einer kniffligen Stelle fertig war, schaute er auf und machte eine Grimasse:
    »Du bist wahnsinnig. Total wahnsinnig. Das habe ich schon immer gewusst«, sagte er plötzlich in einem Ton, der sowohl Verachtung als auch Mitleid ausdrückte.
    Daniel schluckte.
    »Sie verwechseln mich mit meinem Bruder. Das kann ich gut verstehen. Wir sind Zwillinge. Sie haben ihn vielleicht im Dorf getroffen? Max?«
    Der Mann schnaubte und schnitzte weiter.
    »Ich habe ihn in der Klinik besucht, und jetzt möchte ich wieder abreisen«, fuhr Daniel fort.
    Der Mann war aus dem Sessel aufgestanden und kniete nun vor seinem Baumstumpf. Blinzelnd betrachtete er ihn aus verschiedenen Winkeln, schob ihn weg und zog ihn
wieder näher heran. Dabei bewegten sich die ganze Zeit seine Lippen, aber er sprach so leise und undeutlich, dass Daniel ein paar Schritte näher kommen musste, um zu hören, was er sagte:
    »Total wahnsinnig, total wahnsinnig, total wahnsinnig …«
    Daniel zog sich zurück. Er überlegte, was er sagen sollte, und betrachtete die eigenartigen Holzskulpturen. Sie beeindruckten ihn, berührten ihn aber gleichzeitig unangenehm. Der Künstler hatte aus den Formen des Holzes mit einer solchen Geschicklichkeit Gesichtszüge gezaubert, dass man meinte, sie seien schon immer da gewesen und eher enthüllt als geschaffen worden.
    Manche Figuren hatten übertrieben grobe Züge, andere erinnerten an Embryos, zusammengerollt und mit geschlossenen Augen, platten Nasen und Händen, die wie Pfoten aussahen. An der Tür sah er die Figur eines Mannes, nicht größer als ein fünfjähriges Kind, er wirkte etwas schlaff und debil. Die Lider waren schwer, der Unterkiefer endete vorne in einer Schale und wurde offenbar als Aschenbecher benutzt.
    Daniel räusperte sich.
    »Heißen Sie Tom?«
    Die Frage war überflüssig. Der Name stand überall. In jede Skulptur war er mit Großbuchstaben eingeritzt, und auf jedem Werkzeug, das über der Hobelbank hing, war er mit einem Brennstift eingebrannt. Auch für den Holzfuß der Stehlampe war der Brennstift verwendet worden. Der Name tauchte ständig auf, von unten bis hoch zur Lampe, wie Runen in einem Runenstab. Am auffallendsten waren jedoch die schockrosa gesprayten Großbuchstaben über der Rückenlehne des alten Sofas. TOM . Jeder Gegenstand in diesem Zimmer schien mit diesem Namen markiert zu sein. Als hätte der Mann Angst, dass ihm je
mand seine Sachen stehlen würde. Oder als sei er selbst nicht sicher, wie er heißt, als müsste er sich ständig daran erinnern.
    »Okay, Tom. Ich heiße Daniel.«
    Er reichte dem Mann die Hand.
    Tom schaute die Hand an, als sei sie ein Blatt oder eine Wolke oder sonst etwas, das man bemerkt, ohne darauf zu reagieren.
    »Vollkommen, total wahnsinnig«, murmelte er und schnitzte weiter.
    »Wirklich tolle Sachen.« Daniel ließ seine Hand fallen und nickte in den Raum hinein. »Sind Sie Künstler?«
    »Ich arbeite mit Holz«, antwortete der Mann unwillig.
    »Das sehe ich.«
    Daniel kam zu der Einsicht, dass von diesem Typen keine Hilfe zu erwarten war. Es war ein Fehler gewesen, sich von ihm mitnehmen zu lassen. Er musste so schnell wie möglich von hier wegkommen. Er war ein ziemliches Stück vom Dorf entfernt, aber er konnte sich am Wildbach orientieren. Er musste ihm immer folgen, bis auf den Grund des Tals.
    Er nahm seinen Rucksack, den er auf den Boden gestellt hatte, klopfte die Sägespäne ab und setzte ihn auf.
    »Hat mich gefreut, Ihre Kunstwerke zu sehen, Tom. Ich muss jetzt wieder ins Tal hinunter und sehen, ob ich jemanden finde, der mich mitnehmen kann. Wissen Sie, wo der nächste Bahnhof ist?«
    Tom schaute auf. Er betrachtete Daniel mit freundlichem Interesse und sagte:
    »Es geht dir nicht so gut, was?«
    »Tja. Es geht so, Tatsache ist …«
    »Es würde dir viel besser gehen, wenn du aus Holz wärst. Aus

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