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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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dir hätte ich was Schönes machen können. Dein Kinn.«
    »Mein Kinn?«, sagte Daniel verblüfft.
    »Das ist falsch. Es neigt sich nach links. Oder nein. Es fängt zu früh an. Verdammt viel zu früh.«
    Tom kniff die Augen zusammen und nahm mit dem Messer in Daniels Richtung Maß. Er machte in der Luft konzentrierte Bewegungen mit dem Messer, als schnitze er eine imaginäre Skulptur.
    Daniel strich sich übers Kinn und hustete leicht.
    »Wie gesagt, vielen Dank, Tom. Supertolle Sachen. Alles Gute.«
    Er war schon aus dem Zimmer, als Tom plötzlich brüllte:
    »Klaust du mein Holz?«
    Daniel drehte sich erstaunt um.
    »Wie bitte?«
    »In meinem Lager an der Stromschnelle fehlt Holz. Hast du es genommen?«
    In einem plötzlichen Flashback sah Daniel das Holzlager an der Stromschnelle, wo er mit Max geangelt hatte. Die gesprayten Buchstaben T O M. Er hatte es als Abkürzung verstanden. Max hatte gesagt, es sei okay, Holz zu nehmen. »Ich kenne den Bauern.«
    Das war also der Bauer. Ein paranoider alter Hippie, der ein, zwei LSD -Trips zu viel genommen hatte und in einer Hütte in den Schweizer Alpen festsaß.
    In dem Lager waren Hunderte von Hölzern gewesen. Daniel hatte vielleicht fünf, sechs Stück genommen. Hatte Tom jedes Stück Holz gezählt?
    »Ich habe Ihr Holz nicht angerührt, Tom«, sagte er und versuchte so fest und glaubwürdig wie möglich zu klingen.
    »Wer mein Holz anrührt, dem schneid ich den Hals ab«, erklärte Tom sachlich und fuhr mit dem Messer an seinem eigenen Hals vorbei. »Das ganze Holz im Tal gehört mir.
Ich alleine habe das Recht, den Wald zu bewirtschaften. Wenn du Holz brauchst, musst du es bei mir kaufen.«
    »Selbstverständlich.« Daniel nickte nachdrücklich. »Selbstverständlich. Ich denke daran.«
    Tom schien zufrieden zu sein. Er ging in eine Ecke zu einem altmodischen Plattenspieler und legte eine Vinylscheibe auf. Im nächsten Moment dröhnte es in den Lautsprechern, und Jimi Hendrix erfüllte den Raum mit seiner bleischweren E-Gitarre.
    Tom nickte, drehte die Lautstärke noch etwas höher und widmete sich wieder dem Schnitzen. Dabei zog er die Schultern hoch, machte Kaubewegungen und ruckte taktfest mit dem Kopf vor und zurück wie ein Huhn. Er hatte sich offenbar in seine eigene Welt zurückgezogen, in der es Daniel nicht gab.

 
    23  Er brauchte fast eine Stunde, um ins Dorf zurückzukommen.
    Das Tal war voller Nebel, als hätte jemand versucht, die Spalte zwischen den beiden Bergen mit Dichtungsmittel zu füllen. Hin und wieder riss der Nebel auf, und ein Teil des Tals wurde sichtbar, klar und überraschend wie ein Traumbild.
    Kurz sah er ganz oben am Geröllhaldenberg ein Auto. Er hatte nicht gewusst, dass da oben eine Autostraße war. Und dann hörte er das Motorengeräusch eines weiteren Autos, das offenbar jenseits des Flusses in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Oder war es das gleiche Auto? Jemand hatte im Dorf etwas erledigt und fuhr auf einem anderen Weg zurück?
    Egal wie, beide Straßen waren viel zu weit entfernt. Es wurde Abend, und er war hungrig. Er beschloss, noch eine weitere Nacht in Max' Hütte zu verbringen. Morgen würde er sich noch einmal darum kümmern, dass ihn jemand mitnahm. Er würde im Osten über die Brücke gehen, damit er von Anfang an auf der richtigen Seite des Flusses war und der Autostraße folgen konnte.
    Wieder sah Daniel die milchigen Scheinwerfer eines Autos oben am Abhang des Geröllhaldenbergs. Es schien wirklich das gleiche Auto zu sein, erst fuhr es nach Osten und dann auf der anderen Seite des Flusses nach Westen und jetzt wieder nach Osten, bis der Nebel es verschluckte. Fast hätte er geglaubt, dass es in einer ellipsenförmigen Bahn rund um das Tal fuhr, aber das war natürlich Unsinn.
    Er war müde, seine Kleider waren feucht, und als er endlich die Glasgebäude der Klinik am Hang aus den Nebelschleiern auftauchen sah, durchfuhr ihn ein Gefühl, das ihn selbst überraschte: ein Heimatgefühl. Geborgen
heit. Zurück in der guten alten Psychoklinik, nachdem er sich mit unfreundlichen Dorfbewohnern und verrückten Einsiedlern hatte herumschlagen müssen. Die Abreise musste noch warten. Jetzt musste er sich ausruhen und etwas essen.
    In der Hütte gab es keine Lebensmittel mehr, er hatte alles aufgegessen, bevor er sich aufgemacht hatte. Falls der Speisesaal noch aufhatte, konnte er dort essen. Er konnte in aller Ruhe dasitzen, er brauchte sich nicht mehr zu verstellen und so zu tun, als sei er Max.
    Der Park ruhte im

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