Himmelstal
ihn Gisela Obermann und drehte sich mit dem Bürostuhl, sodass sie sich wieder Daniel zuwandte. »Daniel ist zwei Jahre früher als Max geboren.«
»Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Da haben Sie falsche Angaben.«
»Daniels Geburtsdatum ist der …« Sie drehte sich wieder zum Bildschirm. »Hier steht der 28. Oktober 1975.«
»Stimmt.«
»Und Max ist geboren am … Hier ist es: 2. Februar 1977.«
»Nein, nein«, sagte Daniel. »Das ist falsch. Wir sind natürlich am gleichen Tag geboren.«
Gisela Obermann schaute ihn lange und nachdenklich an. Sie stand auf, kam zur Sitzgruppe und blickte schweigend aus dem Panoramafenster. Im starken Sonnenlicht sah sie plötzlich alt und müde aus.
»Was für ein Spiel möchtest du spielen, Max? Wir wissen hier alles über dich. Da draußen hast du die Leute hinters Licht führen können, aber es bei mir zu versuchen ist
doch ziemlich sinnlos, oder? Was willst du damit erreichen?«
»Ich will nur erreichen, dass Sie mir glauben, was ich sage, und mir helfen, hier wegzukommen«, sagte Daniel ungeduldig. »Sie haben falsche Angaben in Ihrem Computer. Max hat offensichtlich gelogen, als er hier aufgenommen wurde. So etwas kann er gut. Aber ich habe nicht vor, meine Zeit bei Ihnen zu verschwenden. Glauben Sie doch, was Sie wollen, aber ich gehe jetzt hier weg. Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten.«
Er stand auf und ging rasch zur Tür.
»Einen Moment noch«, sagte Doktor Obermann.
Er drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er die phantastische Aussicht über das Tal und die schneebedeckten Gipfel in der Ferne. Doktor Obermann blieb im Sessel sitzen. Bequem zurückgelehnt und mit der Andeutung eines Lächelns fuhr sie fort:
»Was meinst du genau mit ›hier weg‹?«
»Natürlich weg aus der Klinik. Aus diesem verdammten Tal«, antwortete er ärgerlich und ergriff die Türklinke.
Die Tür war verschlossen.
»Aus Himmelstal?«, sagte Doktor Obermann von ihrem Sessel aus.
Er drehte sich zu ihr um.
»Ja. Ich weiß, dass die Verkehrsverbindungen miserabel sind und die Bewohner des Dorfs nicht sehr kooperativ. Sie haben Instruktionen von Ihnen bekommen, nicht wahr? Aber ich verschwinde jetzt, und im schlimmsten Fall muss ich eben zu Fuß gehen.«
Sie lachte keuchend.
»Du bist sehr überzeugend. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dir glauben.«
Daniel drückte erneut die Klinke herunter, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Er würde hier nicht heraus
kommen, wenn sie ihn nicht gehen ließ. An einem Kleiderständer neben der Tür hing ihr heller Sommermantel. Er wartete mit der Hand auf der Türklinke und studierte ihren Mantel und den Kleiderständer. Gisela Obermann in ihrem Sessel schwieg.
»Darf ich nicht gehen, wann ich will?«, rief er ärgerlich. »Schließen Sie die Patienten ein?«
»Hier wird niemand eingeschlossen. Du kannst gehen, wann du willst. Ich schließe nur andere aus. Damit wir nicht gestört werden, wenn wir miteinander reden. Und wir sind noch nicht fertig, Max. Ehrlich gesagt, du verblüffst mich heute ein wenig.«
»Verblüffen?« Daniel drehte sich um. »Einer Ihrer Patienten ist abgehauen. Um ihn sollten Sie sich Sorgen machen. Nach ihm fahnden. Es könnte ihm etwas passiert sein, haben Sie das bedacht? Sie verhalten sich verantwortungslos, mehr kann ich dazu nicht sagen. Wären Sie jetzt bitte so freundlich und würden mich gehen lassen?«
»Natürlich. Ich hoffe, wir können unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen. Das hier führt zu nichts.«
Sie ging zum Schreibtisch hinüber.
Irgendetwas an diesem Kleiderständer war eigenartig. Er war aus grobem Holz und passte so gar nicht zur minimalistischen Einrichtung. Als Daniel ihn genauer betrachtete, erkannte er in der geschnitzten Stange zwei sehr magere Figuren, die sich aneinanderpressten, Rücken an Rücken. Die Figuren hielten ihre gebeugten Arme an den Körper gedrückt, aber die Finger waren zu Haken gespreizt, einer hielt Doktor Obermanns Mantel. Darüber sah man zwei längliche Gesichter, sie waren aus der Stange herausgeschnitzt und schauten in entgegengesetzte Richtungen: das eine Gesicht schlafend, Augen und Mund geschlossen, das andere wach, den Mund wie zu einem Schrei aufgesperrt.
Bevor er den eigenartigen Kleiderständer kommentieren konnte, klickte es im Schloss, und die Tür ging auf.
»Adieu, Max«, sagte Gisela Obermann von ihrem Schreibtisch aus. »Du bist jederzeit wieder willkommen.«
Im Lift drehte Daniel seinem
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