Himmelstal
wie Augäpfel, auf einem Gestell an der Wand. Die eine war auf ihn gerichtet, die andere auf die Ärztin.
»Alles okay? Du wirkst ein wenig unkonzentriert.«
»Alles okay.«
»Gut.«
Doktor Obermann blätterte in Unterlagen, die sie auf dem Schoß hatte. Ihre Fingernägel waren heruntergekaut, bemerkte Daniel erstaunt. Ihre Hände sahen dadurch kindlich und verletzlich aus, als gehörten sie jemand anderem. Sie runzelte die Stirn beim Lesen, dann schaute sie auf.
»Du bist in den letzten Tagen unruhig gewesen, habe ich gehört. Ist seit unserem letzten Gespräch etwas Beson
deres geschehen?« Als die Antwort nicht gleich kam, fügte sie unterstützend hinzu: »Du hast Besuch von deinem Bruder gehabt, nicht wahr?«
Daniel holte tief Luft.
»Sie und ich, wir haben uns noch nie gesehen, Frau Doktor Obermann. Sie verwechseln mich mit meinem Bruder. Was auch die Absicht war. Wir haben Sie leider hinters Licht geführt.«
Sie sieht es, dachte Daniel. Jetzt sieht sie es.
»Wie meinst du das?«, fragte Doktor Obermann mit neutraler Stimme.
»Sie sehen doch, dass ich nicht Max bin, obwohl wir uns sehr ähnlich sehen. Ich heiße Daniel Brant und bin letzte Woche hergekommen, um meinen Bruder Max zu besuchen, meinen Zwillingsbruder. Er war in großen Schwierigkeiten und musste dieses Krankenhaus für ein paar Tage verlassen, um etwas zu erledigen. Da er keine Genehmigung hatte, habe ich zugestimmt, mit ihm zu tauschen. Ja, eigentlich bin ich nicht sicher, ob ich zugestimmt habe, aber Max hat es offenbar so aufgefasst. Wir sind eineiige Zwillinge, und deshalb glaubte er, wir würden das Klinikpersonal hinters Licht führen und tauschen können. Was uns offensichtlich gelungen ist.«
»Einen Moment«, rief Gisela Obermann und beugte sich interessiert vor. »Du bist nicht Max, sondern sein Zwillingsbruder, willst du mir das sagen?«
Daniel nickte und lächelte entschuldigend.
»Wenn Sie mich genau anschauen, dann sehen Sie es. Max wollte spätestens am letzten Freitag wieder zurück sein. Und jetzt ist Dienstag. Ich habe nichts von ihm gehört. Hat er sich vielleicht bei Ihnen gemeldet, Frau Doktor Obermann? Oder bei sonst jemandem in der Klinik?«
Statt zu antworten, machte Doktor Obermann eine Notiz in ihren Unterlagen und sagte:
»Könntest du mir ein bisschen genauer erzählen, wie der Tausch vonstatten ging?«
Daniel erzählte, und Doktor Obermann hörte aufmerksam zu.
»Einen Moment«, unterbrach sie ihn plötzlich. »Warum nennst du mich Frau Doktor Obermann? Du nennst mich doch sonst immer Gisela.«
»Aber ich kenne Sie doch gar nicht. Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich Sie auch Gisela nennen. Und wenn Sie lieber deutsch sprechen wollen, was wohl Ihre Muttersprache ist, soll mir das auch recht sein. Ich spreche gut deutsch. Ich war Dolmetscher.«
Doktor Obermann seufzte und verdrehte leicht die Augen.
»Ja, du bist schon sehr viel gewesen. Aber wie du weißt, sprechen wir hier hauptsächlich englisch. Das ist für alle am einfachsten. Du kannst mich nennen, wie du willst, aber ich werde dich weiterhin Max nennen. Du möchtest heute offenbar eine Art Rollenspiel machen, ich weiß, dass du solche Scherze liebst, aber mir ist heute nicht danach zumute.«
»Mein Bruder liebt Scherze. Ich nicht«, sagte Daniel wütend und schlug mit der Handfläche auf die Armlehne des Sessels. »Ich möchte nur die Angelegenheit aufklären und dann von hier verschwinden. Ich heiße Daniel Brant, was ich nicht beweisen kann, weil Max meine Ausweispapiere mitgenommen hat. Sie müssen mir einfach glauben.«
»Aber ich glaube dir nicht.«
Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn weich, beinahe zärtlich an.
»Und warum nicht?«, fragte er erstaunt.
»Weil du ein Mythomane bist. Es ist Teil deiner Persönlichkeit, andere zu belügen und zu manipulieren.«
»Es ist Teil der Persönlichkeit meines Bruders.«
Gisela Obermann stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie tippte auf einer Tastatur und studierte schweigend den Bildschirm.
»Hm«, sagte sie dann. »Dein Bruder kam am Sonntag, den 5. Juli. Er ist am Dienstag, den 7. Juli wieder abgereist.«
» Ich bin am 5. Juli gekommen. Max ist am Dienstag, den 7. Juli abgereist. Er hat sich einen falschen Bart aus dem Theaterfundus angeklebt, und ich habe meinen Bart abrasiert. Ganz einfach, wie in einer Operette, nicht wahr? Ich hätte nie gedacht, dass es funktioniert. Aber weil wir eineiige Zwillinge sind …«
»Ihr seid überhaupt keine Zwillinge«, unterbrach
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