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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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und rein, und sie hatte einen Geruch, den Daniel aus seiner Kindheit kannte, aber nicht gleich identifizieren konnte. Als die Erinnerung schließlich durchdrang, wusste er, warum der Geruch ihn so verwirrt hatte. Es roch nach Schnee, und das war Mitte Juli ganz falsch. Die Wiese war leuchtend grün mit rotem Klee und blauen Glockenblumen.
    Aber als er zu dem Felsen mit den dunklen Figuren auf der anderen Seite des Tals schaute, bemerkte er, dass dessen Kamm aus Tannenwald nicht mehr grün, sondern weiß war. Und als sein Blick den Abhang hinaufwanderte, sah er, dass der Geröllhaldenberg nicht mehr so düster aussah wie bisher, jetzt glitzerte es auf den höchsten Spitzen, als hätte jemand Zucker verstreut.
    Der Regen des gestrigen Abends war da oben als Schnee gefallen. Das war schön und überraschend.
    Sie folgten dem Hang auf einem kleinen Pfad, den Corinne kannte. Sie hatte einen dicken grünen Pulli an und ein Haarklämmerchen über beiden Ohren. Er hatte sie am Springbrunnen kaum wiedererkannt. Sobald sie ihn bemerkt hatte, war sie mit einem kurzen Nicken und ohne ein Wort losgegangen. Er holte sie ein und folgte ihr aus dem Dorf heraus.
    »Was ist das denn?«, fragte er.
    Corinne schaute den Hang hinunter.
    »Hier auf dem Land nennen wir es Kühe.«
    »Nein, nicht die Kühe. Das da unten«, sagte Daniel und zeigte auf etwas, das aussah wie ein kleiner griechischer Tempel.
    »Das ist der Aussätzigenfriedhof. Hast du den noch nie gesehen? Komm, wir gehen hin.«
    Als sie näher kamen, sah Daniel schwarze, schief ste
hende Kreuze, die von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben waren. Direkt oberhalb davon lag der kleine Steintempel, den er von weitem gesehen hatte. Er war kleiner als seine Alpenhütte und war mit Säulen und mächtigen Treppenstufen versehen. Die Rückseite schien im Hang zu verschwinden. Die Vorderseite war eine glatte Wand.
    »Was für ein pompöses Grabmonument. Ein richtiges Mausoleum. Wer liegt da begraben?«
    »Keine Ahnung. Irgendjemand Reiches und Vornehmes. Die konnten wohl auch Aussatz bekommen, nehme ich an«, sagte Corinne. »Der Friedhof gehörte zum Kloster. Die Dorfbewohner hatten einen eigenen Friedhof unten bei der Kirche. Sie wollten ihre Toten nicht zusammen mit den Aussätzigen begraben.«
    Corinne zog ihren Pullover aus, legte ihn auf die feuchte Treppenstufe des Monuments und setzte sich drauf. Sie holte Brot, Käse und Apfelwein aus ihrem Rucksack. Daniel setzte sich neben sie auf seine Jacke.
    »Ein guter Ort zum Picknicken«, sagte sie und schenkte ihm Apfelwein in einen Becher ein. »Als ich neu hier im Tal war, kam ich oft hierher und setzte mich auf die Treppe und dachte nach. Jetzt möchte ich nicht mehr allein herkommen. Aber mit dir bin ich gern hier.«
    Sie lehnte sich an die Steinsäule, schloss die Augen und sog die frische Luft ein.
    Daniel beobachtete sie. Es war offensichtlich, dass sie Max kannte, aber wie gut und wie eng? Vermutlich nicht sehr gut. Niemand kannte Max gut. Hatten sie miteinander geschlafen? Vermutlich. Wie würde sie reagieren, wenn er seine Hand auf ihren Schenkel legte?
    Er musste an das Mädchen in London denken. Er hatte sie noch einmal gesehen, kurz bevor er abreiste, an der Käsetheke eines großen Supermarkts. Als sie ihn erkann
te, wurde sie kreideweiß, ließ ihren Einkaufskorb stehen und verließ schnell den Laden.
    Die Sonne wärmte, aber der Geruch nach Schnee lag immer noch in der Luft. Die Kühe trotteten am Hang entlang, im Hintergrund die hohen Berge, ein Bild wie auf einer Schweizer Schokoladentafel. Daniel schloss die Augen und lauschte den Glocken. Es war ein lustiges Geräusch. Ein kleines Kling hier, ein Klong dort.
    »Es klingt irgendwie beruhigend«, sagte er.
    »So auf die Entfernung, ja. Aber so eine Glocke macht aus der Nähe einen schrecklichen Lärm«, sagte Corinne. »Deswegen läute ich nur sehr vorsichtig mit meiner Glocke, wenn ich auftrete. Ich muss immer an die armen Kühe denken, die diesen Lärm direkt am Ohr haben.«
    »Eigentlich ist es ja Tierquälerei«, sagte er.
    Corinne schnitt eine Scheibe Käse ab.
    »Sie sind vermutlich alle stocktaub«, sagte sie.
    »Oder sie haben einen höllischen Tinnitus.«
    Sie streckte Daniel das Messer mit dem Käse hin.
    »Probier mal. Er kommt von diesen Kühen. Aus der Molkerei von Himmelstal. Er ist teuer, aber was will man machen? Es ist die einzige Molkerei im Tal. Sie haben keine Konkurrenz.«
    Er steckte den Käse in den Mund, aber noch bevor er den Geschmack loben

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