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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Lippen und schwieg.
    Er beugte sich näher heran und wiederholte die Frage.
    »Entscheiden sie auch über dein Leben, Corinne?«
    Sie senkte den Kopf und sagte leise:
    »Auch über mein Leben. Über alle.«
    Daniel wollte protestieren, aber ehe er etwas sagen konnte, wurde die klare Luft von einem fürchterlichen Ge
brüll zerschnitten. Es kam von weiter oben, aus dem Tannenwäldchen, so wild, dass es kaum von einem Menschen kommen konnte.

 
    26  »Was war das?«, flüsterte Corinne.
    Vielleicht eine Kuh, dachte Daniel. Aber die grasten ungerührt weiter. Dann war aufs neue ein Brüllen zu hören, dieses Mal schriller.
    »Das ist ein Mensch«, entschied Daniel und stand auf. »Da ist etwas passiert.«
    Er schaute zum Wald hinauf und spürte Corinnes Hand auf seinem Arm.
    »Geh da nicht hin«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Ich werde Hilfe rufen. Aber geh nicht hin.«
    Sie wühlte fieberhaft in ihrem Rucksack und fand ihr Handy.
    »Geh nicht hin«, wiederholte sie, wählte eine Nummer und drückte mit einer Hand das Telefon ans Ohr, während sie mit der anderen versuchte, Daniels Arm festzuhalten.
    Ein Mann – Daniel hörte jetzt deutlich, dass es ein Mann war – brüllte unbeherrscht aus dem Wald.
    Daniel machte sich von Corinnes Hand los und lief den Hang hinauf.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Augen sich vom Sonnenschein der Almwiese auf die Dunkelheit im Wald umgestellt hatten. Zunächst sah er einen Mann, der breitbeinig dastand, den Cowboyhut tief in die Stirn gedrückt. Daniel sah, dass es Tom war, der verrückte Holzschnitzer.
    Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis er einen zweiten Mann sah, der nackt an eine Tanne gefesselt war. Mit seinem mageren und stark behaarten Körper verschmolz er fast mit der Rinde des Baums, wenn nicht das Blut gewesen wäre, das dunkelrot und dick aus mehreren Wunden an Bauch und Beinen floss.
    Die Szene erinnerte an ein Bild aus primitiver Vor
zeit mit Götzenverehrung und Menschenopfern. Es war schrecklich und unwirklich.
    »Und das ist das achte Stück Holz«, sagte Tom feierlich und führte das Messer langsam zum Bauch des gefesselten Mannes.
    Er kitzelte ihn leicht mit der Spitze und betrachtete dabei interessiert das nach oben gerichtete brüllende Gesicht, dann zog er das Messer wieder zurück.
    »Warum schreist du denn? Ich habe dich noch nicht berührt.«
    Der Gefesselte schaute auf seinen Bauch, Tom setzte laut lachend einen Schnitt direkt unter dem Nabel. Der Körper versteifte sich zu einem neuerlichen Brüllen, es klang heiser und wie ein kaputtes Blasinstrument.
    Daniel stand da wie betäubt. Keiner der Männer schien ihn bemerkt zu haben.
    Die Kühe waren ganz nah. Daniel konnte sie nicht sehen, aber der harte, metallische Klang ihrer Glocken mischte sich mit den Schreien des Mannes. Es war wie in einem fürchterlichen Traum.
    »Vierzehn Stück Holz hast du genommen?«, schrie Tom. »Vierzehn waren es, nicht wahr? Oder noch mehr?«
    Er ist völlig verrückt, dachte Daniel. Wen hat Corinne angerufen? Gab es im Dorf eine Polizeistation? Wahrscheinlich nicht. Und diese trägen, unfreundlichen Dorfbewohner waren bestimmt auch keine Hilfe. Hat sie in der Klinik angerufen? Der Mann verblutete. Und Tom konnte jeden Moment einen weiteren Schnitt machen, der ihn sofort tötete.
    Die Kuhglocke und die Schreie verschluckten das Geräusch von Daniels Schritten. Er schlich in einem großen Bogen um die Männer herum und blieb dann im Schutz einer dichten Tanne hinter Tom stehen. Er stieß an einen nadeligen Zweig, der sich jetzt hin und her bewegte. Tom
drehte sich mit einem Sprung um und landete wie ein Frosch in der Hocke. Er betrachtete den schaukelnden Zweig. Daniel blieb unbeweglich stehen.
    Durch einen Spalt zwischen den Zweigen sah er, wie Tom näher kam, die Hand ausstreckte und den Tannenzweig packte. Jetzt würde er entdeckt werden. Er spürte, dass er einer Ohnmacht nahe war.
    Aber Tom schien sich mehr für den schaukelnden Zweig zu interessieren als für den, der ihn zum Schaukeln gebracht hatte.
    »Tannenreisig«, sagte er nachdenklich und zog am Zweig. »Genau. Ich werde dir die Eingeweide herausschneiden und dich mit Tannenreisig ausstopfen.«
    Einen Moment lang dachte Daniel, dass Tom mit ihm sprach, dass er ihn doch gesehen hatte. Gerade als er die Hand heben wollte, um sich vor dem Messer zu schützen, ließ Tom den Zweig los und wandte sich wieder an den Mann am Baumstamm.
    »Ja, so werde ich es machen«, rief er entschlossen, als hätte er

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