Himmelstal
Weiden und kleine Laubwälder zwischen der Straße und dem Felsen erkennen. Auf den Weiden waren keine Tiere zu sehen. Vielleicht suchten sie nachts Schutz zwischen den Bäumen. Wenn sie überhaupt da waren. Denn welche Tiere ließen sich von so einer lächerlichen Einzäunung abhalten – eine aufgespannte Nylonschnur, kaum einen Meter über der Erde?
An der Schnur hingen in regelmäßigen Abständen Schilder. Sie schaukelten leicht im Nachtwind. Als der Mond hinter den Wolken hervorkam, nahm er eines in die Hand und las »Zone 1«. Auf dem nächsten stand »Warnung«.
Daniel betrachtete die Wiese jenseits der Absperrung. Er sah nichts, was Grund für eine solche Warnung hätte sein können. Kein Schussfeld, keine Bauarbeiten, überhaupt keine Anzeichen für menschliche Eingriffe. Nur Gras und Bäume und eine Felswand.
Weit entfernt hörte er einen Automotor. Das Auto näherte sich von hinten, aus der Richtung der Klinik. Er tauchte schnell unter der Schnur durch und lief über die Weide auf den Wald zu. Er dachte an die Warnung, aber das sich nähernde Auto war eine handgreifliche und unmittelbare Gefahr, während die Warnung unverständlich und diffus war, vielleicht nicht mehr aktuell. Er blieb im Dunkel zwischen Haselsträuchern stehen und wartete darauf, dass das Auto vorbeifahren würde. Aber anstatt vorbeizufahren, bremste es und hielt an. Zwei Klinikwachen stiegen aus.
Im nächsten Moment kam aus der anderen Richtung ebenfalls ein Auto in raschem Tempo und blieb neben dem ersten stehen. Noch zwei Wachen stiegen aus, und nach einem kurzen Wortwechsel krochen alle vier unter der Nylonschnur durch und verteilten sich auf der Weide. Zwei gingen schnellen Schrittes aus verschiedenen Richtungen zum Felsen, die beiden anderen kamen auf den Wald zu, in dem Daniel stand.
Er zog sich tiefer in den Wald zurück, wohl wissend, dass er nicht mehr als fünfzig Meter gehen konnte. Dann kam der Fels. Er musste dann den Berg entlang nach Westen gehen, er konnte nur hoffen, dass der Wald ihm folgen würde, ihn beschützte und verbarg.
Jetzt sah er die jenseitige Grenze der Weide, die Schilder an der Nylonschnur wehten wie große weiße Nachtfalter in der Dunkelheit.
Die uniformierten Männer waren hinter ihm. Die Lichtkegel ihrer starken Taschenlampen exponierten Baumstämme, Schilder und Felswand in kurzen, unzusammenhängenden Bildern.
»Siehst du ihn?«, rief jemand.
»Nein, aber er muss hier sein.«
Schnell tauchte er unter der Nylonschnur durch.
Im nächsten Moment schoss etwas Fürchterliches aus dem Gras hoch und traf ihn direkt und durch Haut und Muskeln hindurch.
Teil 2
29 Die Mitglieder des Forscherteams von Himmelstal kamen nacheinander in den Konferenzraum. Sie blinzelten in die Morgensonne, die durch die Panoramafenster schien, und setzten sich an die Plätze, die im Lauf der Zeit ihre geworden waren, sie öffneten ihre Aktentaschen und legten Notizblöcke und Plastikmappen zurecht.
Gisela Obermann stand an der Schmalseite des Tischs und lächelte die hereinströmenden Kollegen etwas gestresst an. Als alle da waren, schloss sie die Tür.
»Ich hoffe, du hast einen richtig guten Grund für diese Zusammenkunft«, sagte Karl Fischer und öffnete ungeduldig eine Flasche Mineralwasser und schenkte sich ein Glas ein. »Max«, las er auf dem Papier, das Gisela auf alle Plätze gelegt hatte. »Schon wieder. Was hat er dieses Mal angestellt?«
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich euch so kurzfristig und so früh am Morgen hierher gebeten habe«, sagte Gisela Obermann. »Aber das ist ja der Vorteil, wenn alle an einem Ort sind. Wenn etwas passiert, können wir uns sofort treffen und darüber reden.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Hedda Heine. Sie beugte sich vor und blinzelte über ihre Brille wie eine besorgte Eulenmutter.
»Hat er wieder eine Heldentat begangen?«, sagte Karl Fischer spöttisch.
»Ich werde euch gleich erzählen, was passiert ist. Aber zunächst möchte ich euch unsere gestrige Zusammenkunft ins Gedächtnis rufen. Ihr erinnert euch, dass wir ges
tern hier saßen und Max zugehört haben? Und ihr wisst auch noch, was er behauptet hat?«
»Dass er irgendwie anders heißt«, sagte Hedda Heine.
»Daniel Brant«, las Brian Jenkins eifrig in seinem Notizheft. »Zwillingsbruder von Max. Sie haben angeblich getauscht.«
»Ja, mein Gott«, sagte Fischer und trank einen großen Schluck Mineralwasser.
»Und ihr erinnert euch an den Grund für das gestrige Treffen?«, fuhr Gisela
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