Himmelstal
Obermann fort, sie tat so, als bemerke sie den verächtlichen Tonfall von Doktor Fischer nicht. »Er hat sein Leben riskiert, um das eines anderen Menschen zu retten. Würdet ihr, mit all eurer Erfahrung und nach allem, was ihr über Max wisst, sagen, dass dies ein charakteristisches Verhalten für ihn war?«
»Nein«, murmelten einige.
»Er wollte Aufmerksamkeit. Und die hat er ja wirklich bekommen«, sagte Karl Fischer. »Außerdem wissen wir noch nicht genau, was vorgefallen ist.«
»Es war genauso, wie er erzählt hat. Die Wachen haben es bestätigt. Und es war ein Verhalten, das mich auf jeden Fall sehr überrascht hat. Ich musste an das denken, was er mir zuvor erzählt hatte. Dass er der Zwillingsbruder von Max sei, ihm sehr ähnlich im Aussehen, aber ansonsten ein ganz anderer Mensch.«
»Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum du so eine Geschichte daraus machst«, sagte Karl Fischer. »Die Lüge ist Teil der Persönlichkeitsstruktur dieser Menschen. Soweit ich weiß, lügt dieser Mann mehr, als dass er die Wahrheit sagt. Das ist wirklich nichts Neues.«
Gisela Obermann nickte.
»Das habe ich auch erst gedacht. Aber das hier wurde so konsequent, so weitsichtig und gründlich ausgeführt. Alle, die Max kennen, wissen, dass er nicht lange bei sei
nen Lügen bleibt. Von all den Unwahrheiten, die er mir an den Kopf geworfen hat, hat er nie eine wiederholt. Sie langweilen ihn. Er ist viel zu wankelmütig und ungeduldig, um an einer Lüge konsequent festhalten zu können. Aber dieses Mal hat er es getan. Vier Tage lang hat er mehreren Menschen immer wieder die gleiche Geschichte erzählt.«
»Seine Phantasie lässt nach«, brummte Fischer. »Auch die besten Geschichtenerzähler wiederholen sich bisweilen.«
»Die Frage, die wir uns stellen müssen«, sagte Hedda Heine, »ist, was er damit gewinnt. Diese Menschen tun nichts, was ihnen keinen Vorteil verschafft.«
»Das hat er doch deutlich erklärt. Er will entlassen werden«, wandte Fischer gereizt ein. »Das ist natürlich nicht möglich, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und du bist viel zu erfahren, um dich manipulieren zu lassen, Gisela. Warum also verschwenden wir unsere Zeit damit?«
Gisela Obermann holte Luft, konzentrierte sich und sagte:
»Max liegt mit Brandverletzungen auf der rechten Körperseite auf der Intensivstation. Er hat heute Nacht die Zone 2 betreten.«
Einen Moment herrschte Schweigen um den Konferenztisch. Doktor Fischer zeichnete geometrische Figuren auf seinen Notizblock.
»Ist er sehr schwer verletzt?«, fragte Hedda Heine.
»Es war dunkel, und die Wachleute haben ihn nicht gleich gefunden. Er blieb etwas zu lange liegen. Aber er wird es schaffen.«
Brian Jenkins blätterte eifrig in einem Stapel Papiere.
»Hat nicht er … Doch.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf eine Zeile, die er gefunden hatte. »August letzten Jahres. Straßenunterführung.«
Gisela schaute ihn strahlend an.
»Genau. Max hat vor etwa einem Jahr schon einmal die Zone 2 betreten. Wisst ihr, was das bedeutet?«
Die anderen schauten sie unsicher an.
»Das ist äußerst bemerkenswert. Wir sagen ja immer, dass niemand mehr als einmal die Zone 2 betritt«, bemerkte Doktor Pierce.
»Genau!«
Gisela hatte ganz rote Wangen. Die anderen schauten immer noch fragend drein.
»Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Mann«, fuhr sie fort. »Ich habe das schon bei unserem Gespräch am Dienstag gespürt. Heute Nacht habe ich mir die Filme von unseren Gesprächen angeschaut.«
Sie machte eine Pause und warf Karl Fischer einen zweifelnden Blick zu, der flüsterte Doktor Kalpak etwas zu. Die anderen warteten. Hedda Heine nickte ihr aufmunternd zu, und sie fuhr fort:
»Ich habe unser letztes Gespräch mit den früheren verglichen. Und mein Gefühl wurde bestätigt. Irgendetwas war anders. Gesten, Körperhaltung, Wortwahl, Mimik, die Art, den Kopf zu drehen, aufzustehen und sich zu setzen. All das, was so charakteristisch ist für einen Menschen und das so selbstverständlich ist, dass weder die Person selbst noch andere darüber nachdenken. Das ist einfach nicht Max, dachte ich, das ist der Körper von Max. Aber innen drin ist jemand anderes.«
30 Gisela Obermanns Balkon schien wie ein wunderbares Fahrzeug durch die Luft zu schweben. Von unten kam ein Duft von Nadelbäumen, Gras und dem Schmelzwasser der Gletscher. Der Himmel war bewölkt, Wolkenschleier glitten in niedriger Höhe durch das Tal.
Gisela Obermann wickelte die Wolldecke fester um ihn, setzte
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