Himmelstal

sich auf den Liegestuhl neben ihn und fragte:
    »Was weißt du eigentlich über Himmelstal, Daniel?«
    »Es ist eine Luxusklinik in einer schönen, aber gefährlichen Landschaft. Das Personal scheint verrückter zu sein als die Patienten. Aber am verrücktesten sind die Einheimischen im Tal. Und die Verkehrsanbindung ist so gut wie nicht vorhanden. Jedes Mal, wenn ich versuche, von hier wegzukommen, werde ich von einem unsichtbaren Gummiband zurückgezogen. Das ist ungefähr alles, was ich weiß.«
    Er bohrte das Kinn in die Decke, die die Ärztin um ihn gewickelt hatte. Sie roch schwach nach ihrem Parfüm.
    Es war eigentlich nicht kalt, aber der Thermostat, der seine Körpertemperatur regelte, war offenbar ein wenig kaputt, aus den verletzten Bereichen an seinem Bein und Oberarm konnte plötzlich eine eisige Kälte aufsteigen und sich in Schaudern durch den ganzen Körper fortpflanzen. Im nächsten Moment verwandelte die Kälte sich in Hitze. Man hatte ihm gesagt, das sei gut, ein Zeichen, dass die Nerven unverletzt waren.
    »Du weißt also nichts. Dieser Ort muss dir sehr eigenartig vorkommen.«
    Daniel ließ ein bitteres Lachen hören.
    »So könnte man es ausdrücken.«
    »Ich habe verstanden, dass ich dich ganz einfach wie einen Neuankömmling hier in Himmelstal betrachten
muss. Und ich muss dir erzählen, was ich normalerweise Neuankömmlingen erzähle.«
    Gisela Obermann setzte sich im Liegestuhl zurecht.
    »Ich werde ganz von vorne beginnen müssen. Er dauert eine Weile, alles zu erklären.«
    Daniel zuckte unter der Decke mit den Schultern.
    »Ich bin jetzt zwei Wochen hier. Ich kann noch eine Weile bleiben. Nehmen Sie sich Zeit.«
    »Okay. Du weißt, was Psychopathen sind, nicht wahr?«
    »Ja klar, wieso? Ein Psychopath ist ein Mensch ohne Gewissen. Ein böser Mensch.«
    »›Böser Mensch‹ – diesen Begriff verwenden wir nicht. Aber gewiss, per Definition bedeutet böse zu sein wohl, unschuldigen Menschen bewusst Leid zuzufügen, ohne Schuld zu verspüren. Nach dieser Definition muss ein Mensch, den wir als böse bezeichnen wollen, allerdings in der Lage sein, zu wählen. Und wenn jemand eine Wahl trifft, muss er wissen, zwischen welchen Möglichkeiten er wählt, nicht wahr? Aber der Psychopath kennt den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht.«
    Daniel protestierte.
    »Ich bin überzeugt davon, dass er es weiß.«
    »Ja, auf der intellektuellen Ebene. Er weiß, dass Lügen, Diebstahl und Gewalt etwas Böses ist, auf die gleiche Art, wie ein Farbenblinder weiß, dass Tomaten, Blut und Sonnenuntergänge rot sind. Er weiß es, weil man es ihm gesagt hat. Aber so wie der Farbenblinde nie mit den eigenen Sinnen erfahren kann, was wir meinen, wenn wir ›rot‹ sagen, so wird der Psychopath nie erleben, was wir meinen, wenn wir ›böse‹ sagen. Begriffe wie das Böse, das Gute, Liebe und Gewissen sind für ihn Worte ohne Inhalt. Das ist ein Mangel, aber der Psychopath selbst leidet nicht darunter. Die Umgebung leidet. Die schlimmsten Gewaltverbrechen werden von Psychopathen begangen …«
    »Entschuldigen Sie«, sagte Daniel, »aber worauf wollen Sie hinaus? Welche Psychopathen meinen Sie?«
    Gisela Obermann schaute ihn erstaunt an und schien beinahe zu lachen. Sie blickte ein paar Sekunden nach unten, konzentrierte sich und hob dann den Kopf und schaute ihn ernst an.
    »Das wirst du bald verstehen, Daniel. Hab ein wenig Geduld. Die schlimmsten Gewaltverbrechen werden von Psychopathen begangen. Menschen, die sich solcher Verbrechen schuldig machen, bekommen natürlich sehr harte Strafen. Aber …« Sie streckte einen Zeigefinger in die Luft und hob die Augenbrauen. »Wenn nun das Gehirn desjenigen, der diese Taten begeht, eine medizinische Anomalität aufweist, die es von unserem unterscheidet? Wenn dem Gehirn die Fähigkeit zur Empathie fehlt? Können wir dann von ihm verlangen, dass er empathisch ist, und ihn dafür bestrafen, wenn er es nicht ist? Ist das nicht genauso, als wollten wir von einem gelähmten Schlaganfallpatienten verlangen, dass er geht? Oder von einem geistig Behinderten, dass er ein kompliziertes logisches Problem löst? Sie können es ganz einfach nicht. Sie haben nicht das dazu erforderliche Gehirn.«
    »Haben Sie wissenschaftliche Beweise dafür, oder sind das Ihre eigenen Überlegungen?«, fragte Daniel.
    »Sowohl als auch. Es gibt jede Menge Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Gehirne von Psychopathen sich von denen anderer Menschen unterscheiden, aber nicht genug, um