Himmelstiefe
Rest in einer Klinik hinter Gittern und war vor dreißig Jahren im Alter von siebzig Jahren verstorben. Die Geschichte ließ mich frösteln. In einem Schlussabsatz stand, dass sich diese Art dunkle Geschichten im 20.Jahrhundert leider häuften. Nicht durch Doppelbegabungen und auch nicht durch an der magischen Akademie ausgebildete Leute, sondern durch Leute, die die Durchgänge nicht fanden und viel Unheil anrichteten, bevor sie in geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Kliniken landeten. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Genau das, was mir fast passiert war. Ich schlug mit der Faust auf die Seite des Buches und vergaß dabei, dass es keine Papierseite war. Aber die elektronische Seite hielt zum Glück stand. Konnte man denn dagegen nichts tun? Konnte man den Leuten nicht helfen, den Weg in die Akademie zu finden, statt sie sich derart selbst zu überlassen? Warum war das so? Darüber musste ich mehr herausfinden.
Ich kam zu Alexander und Clarissa Starick. Die Sonne verschwand bereits hinter den Gipfeln. In meinem Dom wurde es schummrig. Ich zündete zwei große weiße Kerzen an, die auf dem Boden standen und fast so groß waren wie ich. Ich wollte zurück, bevor es dunkel wurde. Aber das Kapitel musste ich noch lesen.
Alexander war mit fünfzehn an die Akademie gekommen, Anfang der 90er Jahre. Er war ein großer charismatischer Typ gewesen. Alle Mädchen in der Realwelt und später an der Akademie waren verrückt nach ihm. Ich musste unweigerlich an Leonard denken. Und ärgerte mich. Warum dachte ich nicht zuerst an Tim? Nach ihm waren die Mädchen auch verrückt, allerdings nur in der Realwelt.
Bald stellte sich heraus, dass er eine Doppelbegabung besaß: Erde und Feuer. Das erregte Aufsehen. Der Rat nahm ihn unter besondere Kontrolle. Sie wollten sicher gehen, dass sich daraus nichts Gefährliches entwickelte. Alexander machte diese Sonderbehandlung wütend. Zuerst waren es nur harmlose Konflikte. Später gründete Alexander eine geheime Organisation und fand seine Anhänger. Sie wollten die viel zu alten Leute aus dem Rat raushaben, die sich viel zu wenig in der modernen Welt aufhielten und deren Vorstellungen und Ansichten völlig überholt waren. In der Realwelt machte sich durch das Computerzeitalter immer mehr die virtuelle Welt breit. Genauso mussten sich auch Realwelt und magische Welt mehr miteinander verbinden, statt sich weiter voneinander abzukapseln. Warum sollte die magische Welt in der Realwelt geheim gehalten werden? Warum sie nicht offiziell einsetzen, um die Welt zu verbessern? Die Rede, die ich von Alexander zu diesen Dingen las, war mitreißend. Ich dachte an Jerome, dessen Augen geleuchtet hatten, als ich ihn fragte, ob man die magischen Kräfte in der realen Welt nicht noch viel wirkungsvoller einsetzen konnte … Am Schluss forderte Alexander, dass man in der Realwelt ein Bewusstsein für Magier schon deshalb schaffen musste, damit sie die Durchgänge fanden und nicht jämmerlich in Kliniken dahinvegetieren mussten. Ich richtete mich auf. Genau! Er hatte so recht. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, warum die Durchgänge überhaupt lebensgefährlich waren? War das denn unverrückbar oder nur ein Gesetz des Rates?
Ich wechselte von der Rückenlage wieder in den Schneidersitz. Auf die Dauer war der Steinboden ganz schön hart, trotz Teppich. Ich las weiter:
Zwei Jahre später kam Clarissa an die Schule. Mit siebzehn. Sie waren gleich alt. Alexander hatte davor eine Menge Liebschaften gehabt. Es machte den Eindruck, als hätte er jeden seiner weiblichen Fans erst in seinem Bett zu einer richtigen Anhängerin gemacht. Aber in Clarissa verliebte er sich wirklich. Clarissa besaß Fähigkeiten des Elements Wasser. Allerdings munkelt man, dass sie dazu eine Affinität zu Äther besaß. Sie fanden einen Weg in die Realwelt und heirateten, als sie beide achtzehn waren. Keiner weiß, wie sie unversehrt durch die Durchgänge gelangten, obwohl sie noch nicht fertig ausgebildet waren. Ab da wurde es ernst. Sie machten in der Real-Welt keinen Hehl aus der magischen Welt. Sie wurden zu einer großen Gefahr und mussten unter stärkere Kontrolle gebracht werden.
Alles, was ich las, deckte sich mit dem, was Jerome mir erzählt hatte. Vielleicht war Atropa ja jemand, der die magische Welt vor Neuankömmlingen wie mir schützte? Das würde heißen, sie beschützte nicht mich, sondern die magische Welt. Aber dazu brauchte sie doch nicht jahrelang so tun, als wäre sie meine Freundin?!
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