Himmelstiefe

Sonne brannte heiß in mein Gesicht. Ich suchte die Kühle im Innern des Doms auf und setzte mich im Schneidersitz auf den Altar beziehungsweise auf den Podest, auf dem der Altar gestanden hätte. Mein Dom hatte keine Heiligenfiguren und auch kein Kreuz. Ich saß auf dem weichen roten Teppich, auf dem sich das Licht, das durch die langen schmalen Fenster mit buntem Fensterglas hinter mir hereinfiel, in bunten Flecken tummelte. Zum ersten Mal, seit ich hier war, fühlte ich mich stark.
     
    Ich las, mal auf dem Rücken liegend und mal auf dem Bauch, in meinem elektronischen Buch aus der Bibliothek. Es ließ sich aufklappen wie ein ganz normales Buch. Auf der linken und rechten Seite befand sich jeweils ein Bildschirm, so groß wie die Buchseiten eines Taschenbuchs. Unten rechts gab es eine Suchfunktion und die Buchstaben von A-Z, um Titel, Autor oder eine Rubrik einzugeben. Wenn man es aufklappte, erschien auf der linken Seite das Symbol der Blume des Lebens, die die fünf Elemente vereinte. Auf der rechten Seite stand in altmodischer Buchkunstschrift ein Zitat von einem Buddhisten, einem Lama namens Ole Nydahl:
     
    Aus den fünf Elementen
     Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum
    entstehen alle Welten und alle Körper der Wesen.
    Das Feste gibt Masse,
     das Fließende hält alles zusammen,
    die Wärme bringt Reifung,
    der Wind begünstigt Wachstum und Beweglichkeit,
    und der Raum bildet das notwendige Feld für Entwicklung.
     
    Ich gab zuerst Pio ein und fand eine unübersichtliche Zahl an Dokumenten. Die Geschichte der Akademie nach Jahreszahlen und hunderte Namen, zu denen jeweils eine kurze Biographie gehörte. Daneben gab es eine Geschichte des Rates. Ich las kurz hinein und fand Namen, die mir nichts sagten. Dann suchte ich nach Doppelbegabungen. Der Begriff spuckte ein Buch aus mit einer allgemeinen Definition, einer Einleitung und einer Sammlung von Biographien.
    Die erste Geschichte mochte 2000 Jahre her sein. Es war von einem Herrscher der Elemente die Rede, der die Macht über alle fünf Elemente besaß und die magische Welt parallel zur realen Welt schuf. Es war wie eine Schöpfungsgeschichte und nicht klar, ob es Legende war oder wirklich so geschehen. Dann kamen Geschichten von Wunderheilern, Magiern und Hexen, die teilweise aus der realen Welt stammten, die aber in der magischen Welt als Biographien von Leuten gedeutet wurden, die tatsächlich magische Fähigkeiten der Elemente besaßen, darunter auch der Heiler um die Wende des ersten Jahrtausends, der angeblich vier Elemente beherrscht hatte. Ich las flüchtig die Überlieferungen aus dem Mittelalter. Hier stand etwas über Ranja, die es geschafft hatte, den Scheiterhaufen als Durchgang zu benutzen, um nicht verbrannt zu werden, sondern in die magische Welt zu gelangen. Das war ein seltener Fall. Ich erfuhr, dass Ranja zwar keine Doppelbegabung besaß, aber neben Feuer eine Affinität zu Wind und es ihr mit Hilfe des Windes gelungen war, die Feuerdurchgänge zu erreichen. Ranja hatte eine besondere Geschichte. Es war ihrer Ausstrahlung anzumerken. Ich las wie in einem Märchenbuch und es war deshalb so spannend, weil ich Figuren daraus kannte und wusste, dass es keine Märchen waren. Ich fand den Heiler aus dem 18.Jahrhundert in London, von dem mir Jerome erzählt hatte. Er hieß James Mortens und besaß die Macht über Erde, Wasser, Luft. Er schrieb, dass die Erde alles Feste im Körper war: die Sehnen, Knochen und Muskeln, das Wasser alle Flüssigkeiten: Blut, Lymphe und Samen, die Luft der Atem, das Feuer die Körperwärme und der Äther der Geist. Mit Erde, Wasserund Luft konnte er auf Beschädigungen im Körper besonders wirken und so viele heilende Wunder vollbringen, für die die Medizin bis heute keine Erklärung hatte. Das Kapitel über ihn schloss mit Verweisen auf lange Abhandlungen, die er verfasst hatte. Er tat seinen Dienst bei den Menschen und wurde nicht viel älter als ein gewöhnlicher Mensch, 95 Jahre alt. Es gab auch eine ausführliche Biographie über ihn, die einer seiner Lehrer verfasst hatte. Der Name sagte mir aber nichts.
    Das letzte Kapitel des Buches behandelte die drei Personen, von denen ich schon durch Neve und Jerome gehört hatte. Die Geschichte des Mörders mit Element Wasser und Feuer las sich unheimlich. Der Rat hatte lange Jahre nicht mitbekommen, dass er es war, der hinter einer Serie von Verbrechen in der Realwelt stand, bis sie ihn unschädlich machen konnten. Man löschte sein Gedächtnis. Er verbrachte den