Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Gesicht, das jetzt allerdings voller Sorgenfalten war.
Ich blieb in der Tür stehen. Alyssa ging hinein. Sie umarmte ihren Großvater und sagte etwas auf Arabisch. Leise und eindringlich redete sie auf ihn ein. Ich verstand natürlich wieder kein Wort, aber ich sah, wie Leben in das Gesicht des alten Mannes kam. Ein paar Sekunden lang wirkte er wieder so, wie ich ihn vor ein paar Tagen erlebt hatte.
»Alyssa«, sagte er mit matter Stimme. Dann schaute er mich an. »Und Madame Rocher, nicht wahr? Die Frau, die an Ramadan Pfirsiche vorbeibringt.«
»Meine Freunde nennen mich Vianne«, sagte ich.
»Ich schulde Ihnen etwas.« Er hob die Hand. Eine seltsam majestätische Geste, wie die Gunstbezeigung eines alten Königs. »Im Namen meiner kleinen Alyssa.«
Ich lächelte. »Sie schulden mir gar nichts. Das ist allein Monsieur le Curés Verdienst.«
Er nickte. »Scheint so. Bitte richten Sie ihm meinen Dank aus.«
Alyssa kniete auf dem Teppich neben dem Sessel des alten Mannes. Er legte seine Hand, fahl und deformiert wie ein Stück Treibholz, auf den Kopf des Mädchens und sagte etwas auf Arabisch zu ihr. Ich konnte nur das Wort sina identifizieren, sonst nichts.
Alyssa fing leise zu weinen an. »Ich will nicht, dass du stirbst, jiddo. Du musst zum Arzt.«
Der alte Mahjoubi schüttelte den Kopf. »Ich sterbe nicht, das verspreche ich dir. Jedenfalls nicht, bevor ich das Buch hier ausgelesen habe. Und du musst bedenken, das Buch ist dick und ganz auf Französisch. Außerdem ist es klein gedruckt, und meine Augen sind nicht mehr die besten.«
»Darüber macht man keine Witze, jiddo. Du musst besser auf dich aufpassen. Du musst etwas essen und den Arzt kommen lassen. Es gibt so viele Menschen hier, die dich brauchen.«
Er seufzte: »Ach ja?«
»Ja, natürlich!«, warf ich ein. »Manche Leute geben es vielleicht nicht zu. Aber gerade diejenigen, die Ihre Hilfe ablehnen, haben sie oft am dringendsten nötig.«
Da glaubte ich ein Glänzen in den alten Augen zu entdecken. »Sie sprechen von meinem Sohn Saïd.«
Ich nickte. »Meinen Sie, er schafft es, ohne jede Unterstützung Ihre Aufgaben zu übernehmen? Oder gilt ab jetzt …«, ich zitierte ein marokkanisches Sprichwort: »Wenn er mittags behauptet, es ist Nacht, dann sagen Sie: Schau nur, die Sterne?«
Er musterte mich anerkennend. »Madame, ich glaube, ich mag Sie.«
Mir fiel noch ein Sprichwort ein: »Dem Weisen genügt ein Nicken. Ein Narr dagegen braucht einen Tritt in den …«
Er lachte. »Sie kennen viele unserer Sprichwörter, Madame. Kennen Sie auch dieses hier: Eine weise Frau weiß viel zu sagen und schweigt doch meistens?«
»Ich würde nie behaupten, dass ich weise bin«, erwiderte ich. »Ich mache bloß Pralinen.«
Da schaute er mich an, und seine Augen waren ein helles Leuchten in einem Spinnennetz aus Falten. »Ich habe von Ihnen geträumt, Madame Rocher. Als ich das Istikhara-Gebet verrichten wollte, habe ich erst von Ihnen geträumt und dann von ihr. Passen Sie gut auf sich auf. Halten Sie sich vom Wasser fern.«
Alyssa klang besorgt. »Du musst dich ausruhen, jiddo.«
Er lächelte, und jetzt waren die Augen wieder hellwach. »Sehen Sie, wie sie ständig an mir herumnörgelt, dieses Mädchen? Alhamdulillah, ich hoffe, Sie besuchen mich wieder. Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe.«
Inzwischen merkte man ihm die Erschöpfung deutlich an. Ich sagte leise zu Alyssa: »Ich glaube, wir sollten jetzt lieber gehen. Vielleicht kannst du ja morgen wiederkommen.«
Sie blickte mich an. »Ach, Vianne. Meinst du?«
»Wir kommen morgen wieder. Versprochen. Aber nun muss er schlafen.«
Widerstrebend folgte mir Alyssa nach unten ins Wohnzimmer. Maya spielte immer noch Dame mit Omi und hielt Hazrat, den Kater, im Arm.
»Geht es jiddo besser?«, fragte sie, als wir ins Zimmer kamen. »Memti sagt, er ist zu müde zum Spielen, und Omi schummelt die ganze Zeit.«
»Stimmt doch gar nicht«, protestierte Omi. »Ich bin alt und darum unfehlbar.« Mit ihrem zahnlosen Mund lächelte sie mich an. »Wie geht’s dem alten Mann? Hat er mit euch geredet?«
»Ein bisschen.«
»Gut. Du musst bald wiederkommen. Und bring ihm ein paar Pralinen mit.«
Ich nickte. »Ja, natürlich.«
»Warte nicht zu lange.«
Als wir durch den Regen nach Hause gingen, fragte ich Alyssa: »Was ist das Istikhara-Gebet?«
Sie klang überrascht. »Ach, da bittet man Allah um Rat. Wir beten und gehen danach schlafen. Und dann träumen wir die Antwort auf unser Gebet.
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