Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Manchmal funktioniert es, aber nicht immer. Träume kann man oft nicht so leicht deuten.«
Genauso wenig wie die Karten, dachte ich. Bilder, in denen sich Wahrheiten verbergen. Halten Sie sich vom Wasser fern, hatte er gesagt. Der Skorpion und der Büffel.
Warum hat der alte Mann von mir geträumt? Welchen Rat erhofft er sich? Wollte er mich vor Inès Bencharki warnen? Wenn ja – ist es vielleicht schon zu spät? Hat der Skorpion mich bereits gestochen?
»Warum bist du in den Fluss gesprungen?«, fragte ich. »Wegen Luc Clairmont?«
Erstaunt schaute sie mich an. »Wegen Luc?«
»Du’a hat mir von ihm erzählt. Dass ihr euch im Internet getroffen habt und dass du Angst davor hast, jemand könnte es herausfinden.«
Sie schien immer noch nicht zu begreifen. »Wegen Luc?«, fragte sie noch einmal.
»Du hast doch früher mit ihm auf dem Dorfplatz Fußball gespielt. Ist schon in Ordnung, ich verstehe das. Deine Eltern waren damals anders. Ganz Les Marauds war anders. Aber ich kenne Luc. Er hat seinen eigenen Kopf. Wenn er dich liebt, lässt er sich durch Familienstreitigkeiten nicht abhalten. Er wird sich gegen seine Eltern durchsetzen, genau wie du. Alles wird gut, das verspreche ich dir. Wenn du ihn liebst, kann nichts schiefgehen.«
Ich hatte erwartet, sie würde irgendwie reagieren. Anfangen zu weinen oder erleichtert aufatmen. Aber ihr Blick veränderte sich nicht, von ihrem Gesicht konnte man nichts ablesen. Doch dann brach sie plötzlich in Gelächter aus – ein unglückliches, schrilles Lachen, das die Luft durchschnitt wie ein Schrapnell.
»Glaubst du das echt?«, fragte sie. »Dass ich in Luc Clairmont verliebt bin?«
»Stimmt es etwa nicht?«
Sie lachte wieder.
»In wen dann, Alyssa? Und wieso ist es sina?«, wollte ich wissen.
»Ich dachte, du kannst Dinge sehen«, sagte sie spöttisch. Sie klang genau wie Inès, es tat richtig weh. Mit ihrem fest gewickelten hijab wirkte sie auf einmal viel älter als siebzehn, sie hätte dreißig sein können oder noch älter. »Ich dachte, du bist anders als die anderen. Aber in Wirklichkeit siehst du gar nichts. Keiner hier sieht irgendwas.«
Sie begann abgehackt zu schluchzen, und ihr Weinen klang genauso gequält wie vorher ihr Lachen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie stieß mich weg.
»Bitte, Alyssa.« Ich versuchte es noch einmal, und jetzt wehrte sie sich nicht mehr, blieb aber ganz starr. »Bitte, sag mir doch, was los ist. Ich behaupte ja gar nicht, dass ich alles weiß. Aber ich fälle kein Urteil. Das verspreche ich dir.«
Erst dachte ich, sie würde nicht antworten. Wir standen einfach nur im Regen und horchten auf das Rauschen des Tannes und das Sausen des Windes, der die Blätter von den Bäumen riss. Dann holte Alyssa tief Luft und schaute mir fest in die Augen.
»In einem Punkt hast du recht. Ich bin verliebt. Aber nicht in Luc.«
»In wen dann?«
Sie seufzte. »Kannst du dir das nicht denken? Ich habe geglaubt, du weißt es längst. Du hast ihn schon gesehen. Alle sind verrückt nach ihm. Sonia, meine Mutter, Zahra, Inès …« Und dann schloss sie mit einem unglücklichen Lächeln: »Es ist Karim Bencharki.«
3
Mittwoch, 25. August
Dann erzählte sie mir die ganze Geschichte, in kurzen, wütenden Sätzen. Wir saßen unter den Bäumen am Ende des Boulevard des Marauds, und sie beichtete mir alles.
»Er sieht so toll aus«, sagte sie. »Wir waren gleich alle in ihn verliebt. Als er hierhergekommen ist, haben wir einen langweiligen Gelehrten erwartet. Unser Vater hat viel von ihm erzählt, aber was er erzählte, das klang immer total öde. Und dann war er da, und alle Mädchen wollten von ihm beachtet werden. Du hast ihn doch auch schon gesehen, stimmt’s?«
Honiggelbe Augen, eine Stimme wie Samt. »Ja, stimmt, ich habe ihn gesehen.«
Ein hilfloses Achselzucken. »Meine Schwester war verrückt nach ihm. Bevor er gekommen ist, hat sie ein furchtbares Theater gemacht und gesagt, sie will nicht heiraten und keiner kann sie dazu zwingen. Sie wollte sogar weglaufen. Aber dann hat sie Karim gesehen, und sofort war alles anders. Sie hat nur noch von ihm geredet, pausenlos. Und Aisha Bouzana, Jalila El Mardi, Rana Jannat – sie haben ihm alle miteinander schöne Augen gemacht und hinter Sonias Rücken getuschelt. Sie haben gesagt, Sonia meint es gar nicht ernst und ist keine gute Muslima. Sie haben ihr sogar vorgehalten, dass sie früher wie wir alle auf dem Dorfplatz Fußball gespielt hat. Das hat unsere Mutter total nervös
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