Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
und schaute durch das Bullauge hinaus in den Regen. Als sie Du’a sah, sprang sie auf, und es folgte ein schneller Wortwechsel auf Arabisch, von dem ich praktisch nichts verstand, bis auf das Wort jiddo – Großvater. Und Du’as eindringlicher Ton fiel mir auf. Alyssa hörte konzentriert zu, stellte nur ab und zu eine Frage oder warf eine Bemerkung ein. Dann sagte sie: »Ich muss los.«
»Was ist denn?«
»Es ist wegen jiddo. Er ist krank und will mich sehen.«
Mir fiel ein, dass Fatima mir schon von der Krankheit des alten Mahjoubi erzählt hatte. Weil ich nur darauf aus war, Inès zu finden, hatte ich nicht so genau zugehört. Es war irgendwie um einen Streit mit Saïd gegangen – oder mit Inès? –, und der alte Mahjoubi hatte sich jetzt vorübergehend bei den Al-Djerbas einquartiert. Ich dachte an mein Gespräch mit ihm. Sein verschmitzter Blick und der respektlose Humor hatten mich beeindruckt. Warum war er plötzlich so krank geworden?
»Was fehlt ihm denn?«
Sie zuckte die Achseln. »Das weiß keiner. Und er sagt nichts. Er geht auch nicht zum Arzt. Nicht mal essen will er, liest bloß seine Bücher oder schläft den ganzen Tag. Er will mich sehen. Ich muss los.« Sie zögerte kurz. »Kannst du mitkommen? Bitte!«
Ich lächelte. »Okay. Ich ziehe mich nur schnell richtig an.«
Fünf Minuten später machten wir uns auf den Weg durch den sanften, aber stetigen Regen. Alyssa trug wieder den hijab, unter dem ihr Gesicht ganz klein und eckig wirkte. Les Marauds riecht jetzt, während der Ebbe, noch stärker nach Meer – irgendwie brackig, was mich an Häfen und lange Reisen und Strände in der Morgendämmerung erinnert, an Fußabdrücke im schwarzen Schlick und Kinder, die nach Herzmuscheln graben. Der Tannes ist in der Nacht über die Ufer getreten und hat ein Ende des Boulevards bereits überflutet: Dort hat sich ein flacher See gebildet, in dem sich die Moschee mit ihrem weißen Minarett spiegelt wie eine Fata Morgana. Wenn das so weitergeht, laufen alle Häuser entlang der Straße voll, vom Keller an aufwärts, weil die Gullys und Abflussrohre das Wasser nicht mehr aufnehmen können.
Fatima sagte kein Wort, als wir drei ankamen. Sie winkte uns herein, hängte die Mäntel auf, räumte unsere Schuhe zur Seite und führte uns ins Wohnzimmer. Zahra und Omi waren schon zurechtgemacht für die Moschee. Sie saßen auf bequemen Kissen und spielten ein Spiel, das so ähnlich aussah wie Dame. Maya war bei ihrer Mutter in der Küche. Als sie uns hörte, kam sie sofort angelaufen. Niemand schien überrascht zu sein, mich zu sehen.
»Wie schlimm ist es?«, wollte Alyssa wissen.
Omi zuckte traurig die Achseln. »Wer kann das sagen? Vor fünf Tagen ist er hergekommen und hat gesagt, er möchte lieber bei uns wohnen. Seitdem hat er kaum gesprochen und gegessen. Nicht mal in die Moschee ist er gegangen, er sitzt bloß da und liest sein Buch oder schaut aus dem Fenster. Man könnte denken, er hat die Hoffnung aufgegeben, weil Saïd jetzt seinen Platz eingenommen hat. Aber wenn du mit ihm sprichst …« Sie zuckte wieder die Achseln. »Inshallah. Einen Versuch ist es wert.«
Alyssa schwieg und schien fieberhaft nachzudenken. »Weiß jemand, dass ich hier bin?«, fragte sie schließlich.
Fatima legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich schwöre dir, wir haben es keinem gesagt. Aber hier bleibt nichts lange geheim. Die Leute reden. Und reimen sich etwas zusammen.«
»War sonst jemand hier?«, fragte sie. »Sonia? Mein Vater? Karim?«
»Nein. Saïd findet, wir sollen nicht zu nachsichtig mit dem alten Mann sein. Niemand soll ihn besuchen, bis er bereit ist, wieder nach Hause zu kommen.« Fatima seufzte und schüttelte den Kopf. »Die beiden sind störrisch wie Maulesel und genauso unnachgiebig. Gerade ist Medhi bei dem alten Mann. Er freut sich bestimmt, wenn er euch sieht.«
Sie führte uns die schmalen Stufen hinauf. Der alte Mahjoubi wohnt in einem Dachzimmer im hinteren Teil des Hauses, mit Blick auf den Fluss. Durch ein einziges dreieckiges Fenster kommt Tageslicht herein, die Balken sind niedrig und uralt, ihr Holz ausgebleicht und wurmzerfressen.
Da saß der alte Mahjoubi, eine karierte Decke über den Knien. Seine Wangen waren blass und eingefallen. Neben ihm auf dem Nachttisch lag der dritte Band von Les Misérables, ungefähr bei der Hälfte steckte ein Lesezeichen. Neben ihm stand ein Mann, von dem ich annahm, dass er Fatimas Ehemann Medhi war: grauhaarig, mit einem kleinen Bauch und einem lustigen
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