Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
der Nacht bin ich davongeschlichen, ohne ein Wort zu sagen. Rückblickend war das vielleicht ein Fehler. Niemand weiß, dass ich mich in dieser misslichen Lage befinde. Eventuell kommt in ein paar Tagen jemand beim Häuschen vorbei. Aber wie soll derjenige wissen, wo er nach mir suchen muss? Und wie hoch wird das Wasser noch steigen?
Sie finden vermutlich, dass ich es nicht anders verdient habe. Ich hätte nicht beschließen dürfen, von hier wegzugehen. Ein Priester kann vor Gott oder seiner Berufung nicht davonlaufen. Gott spricht allerdings nicht so zu mir wie Sie, père, und in all den Jahren habe ich mich öfter gefragt, ob das, was ich Berufung nenne, nicht bloß der Versuch ist, einer immer chaotischer werdenden Welt eine Art Ordnung aufzuzwingen. Aber ohne die Kirche bin ich hilflos – das beweist meine augenblickliche Lage. Wie Jonas bin ich von etwas geschluckt worden, das zu groß und fremd ist, als dass ich alleine damit fertig werden könnte.
Ich schob die Kisten gegen die Wand, um so etwas wie eine Pyramide zu bauen. Zögernd kletterte ich dann hinauf und stellte fest, dass ich durch das Gitter schauen konnte, wenn auch nur mit Mühe. Viel gibt es sowieso nicht zu sehen, père, nur eine Backsteinmauer. Das muss eine Seitengasse sein, die überflutet ist, weil der Tannes über die Ufer getreten ist. Es riecht nach Pisse, aber der Geruch wird überlagert von Chlor und Desinfektionsmittel. Weiter weg rieche ich kif und Gewürze. Jemand kocht. Die Gasse dürfte sehr schmal sein, kaum einen Meter breit. Vielleicht ist es nur einer dieser engen Durchgangswege zwischen Straße und Fluss. Diese Passagen werden auch unter besseren Bedingungen nicht oft benutzt. Hier wird mich kaum ein Fußgänger hören.
Und so allmählich bekomme ich Hunger. Stunden sind vergangen, ich habe mindestens eine Mahlzeit verpasst. Mein Magen beschwert sich. Ich esse etwas von dem Proviant aus meinem Rucksack. Leider habe ich nicht besonders viel mitgenommen, ich hatte ja geplant, meine Vorräte gleich hinter Lansquenet aufzustocken. Ein paar Dosen Thunfisch in Öl, ein bisschen Brot von gestern. Ein Apfel. Eine Flasche Wasser. Ich muss mich beherrschen – am liebsten würde ich alles auf einmal essen.
Kaum ist der Hunger einigermaßen gestillt, da meldet sich die Angst zurück, und zwar mit doppelter Wucht. Alle zwanzig Minuten kontrolliere ich die Tür am Ende der Treppe, als könnte sie sich wie durch ein Wunder plötzlich öffnen. Dabei weiß ich genau, dass sie abgeschlossen ist. Es ist kalt hier drin – viel kälter als die Luft draußen. Ich zittere schon richtig. Ich hole den übergroßen Pullover aus dem Rucksack und ziehe ihn an, unter meinen Mantel. Die Wolle ist kratzig, tut aber trotzdem gut. Wenn ich die Augen schließe, macht mich das Geräusch das Wassers ganz schläfrig. Ich könnte auch auf hoher See sein, das Rauschen des Tannes scheint jetzt weiter weg zu sein. Auf dem Meer, unterwegs in eine neue Welt – diese Kindheitsphantasie habe ich schon vor dem Priesterseminar aufgegeben.
So ergeht es kleinen Jungen, die weglaufen, weil sie zur See fahren wollen, Francis Reynaud.
Das ist Ihre Stimme, mon père. Ich weiß, ich weiß. Sie haben recht. Ich sollte Gott um Vergebung bitten. Aber ich bin wie im Rausch. Vielleicht kann ich deswegen nicht beten. Ich empfinde keine Reue.
Noch einmal denke ich über das Meeresmonster nach, das mich verschluckt hat. Haben Sie wirklich recht, wenn Sie mir die Schuld geben? Ist das hier die Strafe dafür, dass ich weggerannt bin? Oder lebe ich vielleicht schon mein ganzes Leben lang im Bauch der Bestie, ohne Kontakt zur Außenwelt?
7
Mittwoch, 25. August
Irgendwann muss ich eingedöst sein. Wie lang ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Es war jedenfalls schon dunkel, und das kleine Lichtquadrat des Lüftungsgitters schimmerte rötlich. Mein Körper war steif, und alle Muskeln taten mir weh, weil ich auf dem Steinboden gelegen hatte. Aber trotzdem hatte ich geschlafen, mon père. Das zeigt, wie erschöpft ich war.
Ich kletterte auf meine Pyramide und warf einen Blick in das Gässchen. Das Wasser im Raum war gestiegen – meine Wanderstiefel waren schon durchnässt.
Der Wind hatte sich gelegt, und es regnete nicht mehr. Ich presste das Gesicht gegen das Gitter. Der Essensgeruch war viel stärker als vorher. Klar. Diese Leute essen nach Sonnenuntergang, manchmal erst um Mitternacht oder noch später.
Ich überlegte, ob ich um Hilfe rufen sollte. Vielleicht kam dann ja
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