Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
eine Träne vergießen außer vielleicht Reynaud selbst?
14
Freitag, 27. August
Wir gingen den Boulevard entlang in Richtung Anlegesteg. Maya und Rosette bildeten die Vorhut, und Rosette sang wie immer ihr Lied ohne Worte. Maya stimmte mit ein. Foxy und Bam scheinen blendend miteinander auszukommen. Mit halbgeschlossenen Lidern konnte ich Bam als orangefarbene Lichtkrakelei hinter den beiden hertanzen sehen, aber Mayas neuer Begleiter entzog sich mir noch immer. Klar, ich sehe die imaginären Freunde nicht dauernd. Es ist Monate her, wenn nicht sogar Jahre, dass ich Pantoufle das letzte Mal zu Gesicht bekommen habe. Als wir zum Ende der Straße kamen, verschwanden die beiden kleinen Mädchen in der engen Passage, die zu dem kleinen Plankenweg am Ufer führt.
»Geht nicht zu weit!«, rief ich ihnen nach. »Und bleibt weg vom Wasser!«
Anouk schaute mich fragend an. »Meinst du, Alyssa schafft es?«
»Hoffentlich«, sagte ich. »Ich mische mich da nicht ein. Wenn sie noch länger bei uns geblieben wäre, hätte sie vielleicht keine Chance mehr gehabt, wieder nach Hause zu gehen.«
»Aber sie hat sich doch die Haare abgeschnitten und alles! Sie findet Fußball toll und Facebook und Popmusik. Sie hat uns sogar geholfen, den Laden neu zu streichen. Wie kann sie jetzt wieder einen Schleier tragen und nur in Begleitung aus dem Haus gehen?«
»Es ist ihre Entscheidung, Anouk.«
»Und was ist mit Luc? Du hast doch gemerkt, dass er ganz verknallt in sie ist.«
»Ich weiß, Anouk.«
Jetzt wurde sie richtig rebellisch. »Wir sind doch aus einem bestimmten Grund hierhergekommen. Du sollst die Dinge in Ordnung bringen.«
Sie klang schon genauso wie Luc. Ich zuckte richtig zusammen. »Immer kann ich das nicht, Anouk.«
»Aber was soll das Ganze dann?« Tränen der Empörung standen ihr in den Augen. »Was hat es für einen Sinn, wenn wir sie am Schluss doch nicht retten können?«
Ein Vögelchen, aus dem Nest gefallen.
»Ich habe nie gesagt, dass ich jemanden retten werde.«
»Doch, hast du!«, widersprach Anouk. »Wir haben so was früher schon gemacht. Also können wir es jetzt auch. Wir haben für viele Leute etwas getan und ihr Leben verändert. Joséphine. Guillaume. Armande. Reynaud.«
Und schau sie dir jetzt an, Anouk, dachte ich. Acht Jahre älter – und was hat sich verändert? Niemand ist gerettet worden. Ein paar dickere Bäuche. Die flüchtige Wärme gemeinsamer Erinnerungen. Aber dann gehst du ins Café des Marauds, und Joséphine ist noch da. Paul-Marie ebenfalls, wenn auch im Rollstuhl. Guillaume mit seinem alten Hund. Armande unter der Erde. Und Francis Reynaud …
Anouk musterte mich vorwurfsvoll. »Du hast aufgegeben. Du glaubst selbst nicht mehr, dass wir etwas bewirken können.«
»Das habe ich nicht gesagt, Anouk.«
»Ach, es ist mir egal, dann mache ich es halt. Wir machen das gemeinsam, Rosette und ich. Wir sorgen dafür, dass alles gut wird für Alyssa und Luc. Wir finden Reynaud. Wir renovieren die Chocolaterie. Und dann musst du auch wieder daran glauben.« Sie schwieg und funkelte mich mit tränennassen Augen an.
»Was ist los, Anouk? Warum ist das alles auf einmal so wichtig?«
Anouk schüttelte nur trotzig den Kopf.
»Bitte, Anouk.«
Sie drehte sich weg und weigerte sich, etwas zu sagen. Ich spürte, dass sie versuchte, die Kontrolle zu behalten. Meine kleine Fremde ist schon immer ein verblüffend verschlossenes Menschenkind gewesen, sie sammelt und hütet Geheimnisse und Schätze und Träume, ein Puzzle, das nie ganz gelöst werden kann. Ich wartete.
»Es ist wegen Jean-Loup«, sagte sie nach einer Weile. »Er reagiert nicht auf meine Mails. Er hat mir versprochen, dass er schreibt, sobald er aus dem Operationssaal kommt. Aber die Operation war vor drei Tagen, und er hat mir keine SMS geschickt und auch nichts bei Facebook gepostet.« Jetzt liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Niemand hat etwas von ihm gehört. Keiner von uns. Und er hat es doch versprochen.«
Ich schloss sie in die Arme und drückte meine Wange auf ihre Haare. »Alles wird gut, Anouk. Ganz bestimmt.«
Deshalb ist Anouk die letzten Tage so empfindlich und unruhig! Nicht wegen Jeannot, sondern wegen ihres Freundes Jean-Loup.
»Woher willst du das wissen? Du kannst das doch gar nicht sagen.«
Du hast recht, Anouk. Es sind nur Worte. Die billigste Sorte von Zauber, wie ein Pfeifen im Wald. Aber manchmal haben wir nur Wörter, und manchmal vertreiben die Worte die Geister.
Und dann, genau in dem Moment,
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