Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
geschah etwas. Rosette, die mit Maya in der Passage spielte, gab plötzlich ein erstauntes Tuten von sich. Ich blickte auf und sah, dass sich unter der Brücke etwas bewegte. War es etwa das Hausboot?
Wir rannten zur Brücke. Es war ein Boot, allerdings nicht Inès Bencharkis, sondern ein kleines dunkelgrünes Flussboot. Der schiefe Schornstein spuckte Rauch aus, auf Deck standen bunte Blumentöpfe. Und von der Brücke aus konnte man noch zwei weitere Boote sehen, ein gelbes und ein schwarzes, die schon am Ufer angelegt hatten.
Rosette und Maya rannten begeistert los.
Anouk drehte sich zu mir. Jetzt leuchtete ihr Gesicht wieder erwartungsvoll. »Du weißt, was das bedeutet, oder?«
Ja. Die Flussratten waren wieder da.
Die Flussratten
1
Freitag, 27. August
Die Flussratten. Es war eine regelrechte Invasion. Neben dem alten Landungssteg lagen lauter schmale hölzerne Flussboote, die man heute gar nicht mehr so baut, manche bunt angemalt, andere grau und braun, wie korpulente alte Wohnwagen, mit kleinen Blechschornsteinen und Wellblechdächern. Bis zur Mittagszeit hatten schon zwölf Boote hinter den alten Gerbereien angelegt. Von Armandes Haus konnte man sie sehen, und als der Abend kam, beobachteten wir, wie ihre Lichter über dem Tannes leuchteten, und hörten die Geräusche: Es wurde gekocht, man rief sich gegenseitig etwas zu, und die kleine Wassergemeinde machte es sich für die Nacht bequem.
Anouk ist überzeugt, dass die Ankunft der Flussratten etwas zu bedeuten hat. Sie weiß nicht genau, was, aber sie meint, der Wind ist nicht mehr derselbe.
Ja, Anouk, vielleicht hast du recht. Der Wind hat sich gelegt. Der Himmel ist klar. Am Boulevard des Marauds bereiten die Familien das Fastenbrechen vor. Es ist der siebzehnte Tag des Ramadan. Ein Meer aus Sternen steht über uns, die Lichter entlang des Boulevards, die Leuchtpunkte der Boote am Ufer des schlafenden Tannes.
Heute sind wir endlich einmal allein. Alyssa ist bei ihrer Familie. Und das Haus hat wieder seine normale Größe. Aber Rosette ist total entzückt von den Booten und möchte unbedingt noch einmal los, um sie näher anzuschauen. Und Anouk will ihre Nachrichten lesen, aber hier haben wir natürlich keinen Empfang.
Ich gebe zu, es war mir recht, dass die beiden loszogen. Zu viele Menschen, zu viel los, viel zu viele Probleme. Eine halbe Stunde für mich allein konnte mir nur guttun, damit ich über alles nachdenken konnte. Ich machte mir eine Tasse heiße Schokolade und ging damit in den Garten. Nach dem langen Regen ist die Luft immer noch ziemlich kühl, und erst allmählich erwacht das Aroma der nassen Erde und des Lavendels. Unter mir die Straßen von Les Marauds. Über mir der bestirnte Himmel.
Ich schloss die Augen. Langsam melden sich die Abendgeräusche. Das Zirpen der Grillen, die Kirchenglocken, das Tick-tick-tick des alten Hauses, das sich in der feuchten Erde einnistet, wie eine müde alte Dame in ihrem Sessel. Eine leise Melodie – vielleicht gespielt von einer Flöte – weht über Les Marauds. Als die Flussratten vor acht Jahren gekommen sind, war ich gerade dabei, mein erstes Pralinenfest vorzubereiten. Anouk war sechs, Roux kannten wir noch nicht. Armande lebte noch. Und während ich jetzt dieser Melodie lausche, gelingt es mir fast zu glauben, dass sich nichts verändert hat. Es gelingt mir fast zu glauben, dass ich mich nicht verändert habe.
Alles kehrt wieder, hat Armande geschrieben. Der Fluss bringt am Ende alles zurück. Ach, gute Armande. Wenn das doch möglich wäre! Wenn du jetzt bei mir sein könntest! Ich habe dir so viel zu erzählen, so viele Geheimnisse anzuvertrauen.
Jeder Mensch vertraut sich irgendjemandem an. Ein Grund, warum die katholische Kirche so anziehend ist, ist sicherlich die Beichte, die Verheißung der Absolution. Reynaud nahm jeden Tag die Beichte ab, ohne Ausnahme. Jetzt bestimmt Père Henri alles, und man kann nur noch am Wochenende beichten, nach dem Gottesdienst. Die älteren Leute vermissen Reynaud. Henriette Moisson und Charles Lévy zum Beispiel, die beide sonst mit fast keinem reden. Für sie ist er mehr als ein Priester. Er ist ein Freund, eine Vertrauensperson. Der alte Mahjoubi hatte für die Leute in Les Marauds eine vergleichbare Funktion. Und vielleicht habe ich selbst ja auf meine Art eine ähnliche Rolle übernommen, damals, in der Chocolaterie. Aber an wen wenden wir uns, wenn wir etwas beichten müssen? Wer hört mir zu?
Meine Schokolade war kalt geworden, also kippte ich
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