Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
die Gegend gereist sind, haben meine Tochter und ich viel Kontakt mit ganz verschiedenen Menschen gehabt, mehr als irgendjemand sonst in Lansquenet. Wir haben gelernt, hinter die Schutzpanzer zu blicken, hinter denen wir uns alle verstecken, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Der niqab – oder, wie Joline fälschlicherweise sagt, die Burka – ist nur eine Stoffschicht. Aber in den Augen von Joline und ihren Freundinnen besitzt dieses Stück Tuch so viel Macht, dass es eine ganz gewöhnliche Frau in einen Menschen verwandelt, dem man nicht trauen darf und vor dem man Angst haben muss. Selbst Guillaume, der normalerweise sehr tolerant ist, hatte nicht viel Positives über die Frau aus der Chocolaterie zu berichten.
»Ich hebe immer die Hand, wenn ich ihr begegne«, sagte er. »Das hat man mir als Kind so beigebracht. Aber sie sagt nicht mal hallo. Und sie schaut mich nicht an. Das ist unhöflich, Vianne, sehr unhöflich. Mir ist es egal, wer die Leute sind, aber ich bemühe mich, immer höflich zu sein. Nur wenn jemand mich nicht mal ansieht …«
Ich verstehe es ja. Es ist bestimmt nicht leicht. Und ich habe kein Recht, mich aufs hohe Ross zu setzen. Jahrelang bin ich vor dem Mann in Schwarz geflohen, ich habe nur die Angst meiner Mutter gesehen und die schwarze Soutane des feindseligen Glaubens. Jahrelang war ich genau wie Guillaume und die anderen. Blind vor lauter Vorurteilen. Erst jetzt sehe ich die Wahrheit – der Mann in Schwarz war auch nur ein Mensch, genauso verletzlich wie alle anderen. Ist Lansquenet mit seiner Frau in Schwarz wirklich anders als früher? Und könnte es sein, dass auch sie, unter ihrem Schleier, genau wie Reynaud eigentlich nur Hilfe sucht?
2
Montag, 16. August
Endlich kam die Nacht. Der Himmel wechselte von Wassermelonenrot zu einem dunklen, samtigen Schmuckschatullenblau. Der wehmütige Ruf des Muezzins hallte leise durch Les Marauds. Gleichzeitig begannen auf der anderen Seite des Flusses die Kirchenglocken zu läuten, um das Ende der Messe zu verkünden. Mindestens zehn Familien hatten uns zum Essen eingeladen, für den Fall, dass wir Lust auf Gesellschaft hätten, aber Rosette schlief schon halb, und Anouk klebte wieder an ihrem iPod. Die Mädchen waren erschöpft. Vielleicht von der frischen Luft, von der anderen Landschaft, den vielen Leuten und Besuchern. Ich machte uns ein schlichtes Abendessen aus Oliven, Brot, Obst und Käse, dazu einen Salat aus Löwenzahnblättern, vermischt mit gelber Kapuzinerkresse. Wir redeten fast nicht beim Essen, sondern horchten auf die Abendgeräusche, die durchs offene Fenster drangen: Grillen, Kirchenglocken, Frösche, Vogelstimmen. Dazu das Ticken von Armandes alter Uhr mit dem grinsenden pergamentfarbenen Zifferblatt. Mir fiel auf, dass Rosette gar nicht richtig aß, sie schob die Oliven auf ihrem Teller hin und her wie Figuren bei einem komplizierten Brettspiel.
»Was ist los, Rosette? Hast du keinen Hunger?«
»Sie vermisst Roux«, erklärte Anouk.
»Ruru«, murmelte Rosette traurig.
»Wir sehen ihn bald wieder. Es wird dir hier ganz bestimmt gefallen«, tröstete Anouk ihre kleine Schwester und nahm sie in den Arm. Dann schaute sie mich fragend an. »Joséphine war noch gar nicht hier. Ich habe gedacht, sie würde uns als Erste begrüßen.«
Anouk hatte recht. Mir war es auch aufgefallen. Aber das Café ist den ganzen Tag geöffnet, bestimmt hatte Joséphine viel zu tun. Trotzdem hätte sie in ihrer Mittagspause kurz vorbeikommen können. Vielleicht wollte sie nicht all die anderen Leute treffen, Leute wie Caro und Joline, die nur zum Tratschen und Glotzen kommen. Vielleicht hatte sie heute zu wenig Personal und konnte tagsüber gar nicht weg. Hoffentlich! Von all den Leuten, die wir hier zurückgelassen haben, dürfte Joséphine diejenige sein, die ich am meisten vermisst habe. Joséphine mit den seelenvollen Augen und der Aura trotzig stoischer Verachtung.
»Wir gehen morgen zu ihr«, versprach ich Anouk. »Vielleicht hatte sie heute zu viel zu tun.«
Schweigend beendeten wir unsere Mahlzeit. Anouk und Rosette gingen ins Bett. Ich blieb noch eine Weile sitzen, mit einem Glas Rotwein, und fragte mich, was Reynaud gerade machte. Ich stellte mir ihn in seinem kleinen Haus vor, wie er das letzte Licht am Himmel betrachtete und dem Läuten der Kirchenglocken lauschte, während der junge Rivale an seiner Stelle die Messe las. Und weil ich so unruhig war, öffnete ich leise die Tür und trat hinaus.
Es roch nach Staub und nach
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