Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Pfirsichen. Die Grillen zirpten in der Rosmarinhecke. In diesem Teil des Dorfes gibt es keine Straßenlaternen, aber der Himmel wird nie ganz dunkel, und dieses Licht reichte aus, um mir den Weg zur Brücke und zum Fluss zu zeigen.
Da unten erwachte Les Marauds zum Leben. Überall um die geschlossenen Fensterläden herum sah man helles Licht. Auf der Straße waren Menschen unterwegs, aus einer offenen Küchentür drang der Duft von Räucherstäbchen und leckeren Speisen. Es wirkte vollkommen anders als noch vor ein paar Stunden. Vorher hatte eine dumpfe, drückende Hitze geherrscht, da waren die Frauen mit Kopftüchern und abayas über ihren Alltagskleidern, die bärtigen Männer in ihren Gewändern, ein vorsichtiges, misstrauisches Schweigen. Jetzt hörte man lebhafte Stimmen, Gelächter, festlichen Lärm. Während des Ramadan sind die Tage sehr lang. Und das Essen am Ende eines solchen Tages ist ein Festmahl, ein Glas Wasser ein Segen. Geschichten werden erzählt, Spiele gespielt. Die Kinder dürfen lange wach bleiben.
Ein kleines Mädchen in einem gelben kamiz rannte über die Straße und schwang dabei einen Stock, der ein laut surrendes Geräusch von sich gab. Das machen die Kinder hier gern: Sie binden einen großen Käfer an einen Stock und basteln sich so eine improvisierte Rassel.
Jemand rief etwas auf Arabisch. Das Kind protestierte hörbar. Ein Mädchen in dunkelblauem Kaftan trat aus einer Tür. Die Kleine ließ nun brav den Stock am Straßenrand liegen und folgte dem älteren Mädchen ins Haus.
Ich schlenderte weiter durch Les Marauds in Richtung Fluss. Die Brücke, die das Viertel mit dem Rest von Lansquenet verbindet, ist wirklich ein Scheideweg, hier standen früher die Gerbereien, jetzt steht da die Moschee. Auf beiden Seiten kann man noch die Mauer der alten bastide sehen, die zwar an manchen Stellen bröckelt, aber potentielle Eindringlinge doch warnend darauf hinweist, dass Lansquenet seinen Einwohnern Schutz bietet.
Die Brücke ist aus Stein. Ziemlich tief darunter liegt der Fluss, der das Dorf in zwei Teile teilt, wie die Hälften einer Frucht. Im Winter, nach dem Regen, führt der Tannes so viel Wasser, dass nur noch ganz flache Boote unter der Brücke durchkommen. Im Herbst, vor allem nach einem besonders heißen Sommer, ist der Fluss manchmal fast ausgetrocknet, und man sieht lauter Inseln aus grobem Sand und dazwischen kleine Rinnsale. Um diese Jahreszeit ist er genau richtig. Richtig fürs Schwimmen, richtig für die Schiffe.
Was in mir wieder die Frage wachrief, weshalb Roux sich damals entschieden hatte hierzubleiben. Er hatte noch vier Jahre in Lansquenet verbracht, nachdem Anouk und ich weggegangen waren. Warum bleibt er dann jetzt lieber in Paris, obwohl er das Landleben so liebt?, fragte ich mich. Warum zieht er die Seine vor, wenn der Tannes doch so einladend ist? Und ich weiß, Rosette vermisst ihn – Anouk und ich, wir vermissen ihn natürlich auch, aber Rosette vermisst ihn auf eine ganz besondere Art, die wir zwei nicht recht verstehen. Klar, sie hat immer noch Bam – der sich in Roux’ Abwesenheit stärker als sonst bemerkbar macht, wenn er zum Beispiel neben Anouk auf einem Hocker sitzt und sein Schwanz im gelben Schein der Lampe ein schimmerndes Fragezeichen bildet.
Roux, warum bist du nicht mitgekommen?
Roux hat etwas gegen die moderne Technik, aber ich habe immerhin erreicht, dass er ständig sein Handy dabeihat – auch wenn er es nicht oft benutzt. Jetzt versuchte ich, ihn zu erreichen, aber wie nicht anders zu erwarten, hatte er das Handy abgestellt. Ich schickte ihm eine SMS:
Gut angekommen. Wohnen in Armandes altem Haus. Alles in Ordnung, aber manches verändert. Müssen vielleicht noch ein paar Tage bleiben. Du fehlst uns. Liebe Grüße. Vx.
Dass ich eine SMS nach Hause schrieb, machte mir noch deutlicher bewusst, wie weit weg Roux war. Zuhause. Ist es wirklich mein Zuhause? Ich schaute hinüber nach Lansquenet: die kleinen Laternen, die verwinkelten Straßen, der Kirchturm, hell im Dämmerlicht. Auf dieser Seite des Flusses lag die dunklere Hälfte, die Straßen waren nur von den Lichtern in den Häusern erhellt, und die schattige Spitze des Minaretts mit ihrem silbernen Halbmond fordert den Kirchturm heraus, der wie eine erhobene Faust auf dem Marktplatz steht.
Eine Zeitlang habe ich geglaubt, das hier ist mein Zuhause und ich würde in Lansquenet bleiben. Auch jetzt noch erscheint bei dem Wort »Zuhause« vor meinem geistigen Auge der kleine Laden, die
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