Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Wohnung über der Chocolaterie, Anouks Zimmer unter dem Dach mit der Fensterluke. Und ich fühle mich so zerrissen wie noch nie in meinem Leben. Die eine Hälfte von mir gehört zu Roux, die andere gehört hierher nach Lansquenet. Vielleicht, weil das Dorf selbst in zwei Welten zerfällt, die eine neu und multikulturell, die andere so konservativ, wie es nur in den ländlichen Gegenden Frankreichs möglich ist, und ich verstehe das alles so gut.
Doch was will ich hier? Warum habe ich diese Büchse der Ungewissheiten geöffnet? In Armandes Brief stand ganz unmissverständlich, dass jemand in Lansquenet Hilfe braucht. Aber wer ist es? Francis Reynaud? Die Frau in Schwarz? Joséphine? Ich selbst vielleicht?
Ich kam an dem Haus vorbei, aus dem das Mädchen in dem blauen Kaftan getreten war. Der Stock mit dem gefesselten Käfer lag noch am Straßenrand. Ich befreite den Käfer, der mich böse ansurrte, ehe er davonflog. Dann schaute ich mir das Haus näher an.
Wie die meisten Häuser in Les Marauds war es ein niedriges einstöckiges Gebäude, teils aus Holz, teils aus gelbem Backstein gebaut. Eigentlich sah es aus, als wären es zwei Häuser, die man miteinander verbunden hat. Die Tür und die Fensterläden waren grün gestrichen, und auf den Fenstersimsen standen Blumenkästen mit roten Geranien. Von innen hörte ich Stimmen, Gelächter, Gespräche. Ich konnte riechen, dass gekocht wurde. Scharfe Gewürze und Minze. Als ich weiterging, öffnete sich die Tür wieder, und das kleine Mädchen in dem gelben kamiz kam auf die Straße gelaufen. Als sie mich sah, blieb sie stehen und starrte mich mit großen Augen an. Ich schätzte sie auf fünf oder sechs. Noch zu klein für ein Kopftuch. Ihre Haare waren zu Zöpfchen geflochten, die von gelben Schleifen zusammengehalten wurden. Und um ihr kräftiges Handgelenk trug sie ein goldenes Armband.
»Hallo«, sagte ich.
Die Kleine musterte mich stumm.
»Ich musste leider deinen Käfer befreien«, sagte ich mit einem Blick auf den Stock. »Er hat so traurig ausgesehen, wie er da festgebunden war. Morgen kannst du ihn wieder fangen. Das heißt, wenn er spielen will.«
Ich lächelte. Das Mädchen fixierte mich immer noch. Verstand sie überhaupt, was ich sagte? In Paris bin ich öfter Mädchen begegnet, die etwa so alt waren wie Rosette und kein Wort Französisch sprachen, obwohl sie hier geboren waren. Meistens beherrschten sie am Ende der Grundschule die Sprache perfekt, aber ich hatte von Familien gehört, die ihre Töchter nicht auf die weiterführende Schule schickten – manche wegen des Kopftuchverbots, andere, weil die Mädchen zu Hause gebraucht wurden.
»Wie heißt du?«, fragte ich die Kleine.
»Maya.« Sie verstand also, was ich sagte.
»Schön, dich kennenzulernen, Maya«, sagte ich förmlich. »Ich heiße Vianne. Ich wohne in dem Haus da oben, mit meinen beiden kleinen Töchtern.«
Ich zeigte zu Armandes altem Haus.
Maya musterte mich skeptisch. »In dem Haus?«
»Ja, es hat früher meiner Freundin Armande gehört.« Ich konnte Maya ansehen, dass sie immer noch nicht so recht überzeugt war, deshalb wechselte ich das Thema. »Mag deine Mutter Pfirsiche?«
Die Kleine nickte zögernd.
»Ich sag dir was: Neben dem Haus meiner Freundin steht ein Pfirsichbaum. Wenn du willst, pflücke ich morgen ein paar Früchte und bringe sie deiner Mutter zum iftar.«
Dass ich das Wort für Fastenbrechen kannte, ließ Maya lächeln. »Du weißt, was iftar ist?«
»Ja, natürlich.«
Meine Mutter und ich haben eine Weile in Tanger gelebt. Eine vibrierende Stadt, in vielerlei Hinsicht. Und voller Widersprüche. Ich habe immer versucht, die Leute in meiner Umgebung anhand ihrer Essgewohnheiten und der verschiedenen Rezepte zu verstehen, und manchmal, in einer Stadt wie Tanger zum Beispiel, ist das Essen die einzige gemeinsame Sprache.
»Wie brecht ihr heute Abend das Fasten? Gibt es Harissa-Suppe?«, fragte ich. »Ich liebe Harissa-Suppe.«
Mayas Lächeln wurde breiter. »Ich auch«, sagte sie. »Und Omi macht Pfannkuchen. Sie hat ein Geheimrezept. Ihre Pfannkuchen sind die besten auf der ganzen Welt.«
Plötzlich ging die grüne Tür wieder auf. Eine strenge Frauenstimme rief in scharfem Ton etwas auf Arabisch. Erst wollte Maya protestieren, aber dann ging sie zögernd zurück ins Haus. Kurz erschien eine schwarz verschleierte weibliche Gestalt im Türrahmen. Ich hob zur Begrüßung die Hand, doch die Tür war schon wieder ins Schloss gefallen, ehe ich sicher sein konnte,
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