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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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vorhin gesehen hatte, nirgends eine Spur. Ich tauchte, aber es war zu dunkel. Keuchend kam ich wieder nach oben und ruderte mit den Armen durch das Wasser. Mir blieben nur wenige Sekunden, dann würde das Opfer – wer immer es sein mochte – weggetragen werden und für immer verschwinden. Es war hoffnungslos, das wusste ich, aber ich wusste auch, dass ich es trotzdem versuchen musste.
    Père, ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich gar nicht auf die Idee kam zu beten. Meine Hand bekam ein Bündel Haare zu fassen, dann ein Stück Stoff, und ich zog die Person an mich, ließ uns beide von der Strömung ein Stück weiter treiben, über Felsen und spitze Äste, die unter der Oberfläche lauerten, und schließlich schaffte ich es, ans Ufer zu schwimmen und sie auf den Sand zu schleifen.
    Städter vergessen oft, wie hell das Mondlicht sein kann. Selbst eine schmale Sichel reicht aus, damit man die Gesichtszüge eines Menschen erkennen kann. Es war ein junges Mädchen, das sah ich, als ich das Tuch von ihrem Gesicht wegzog. Ich erkannte sie sofort – schließlich hatte ich sie oft genug auf dem Dorfplatz gesehen, als sie noch ein Kind war und mit den Jungs Fußball spielte, in Jeans und einem übergroßen Sporthemd. Ein paar Jahre älter war sie jetzt natürlich, ihr Gesicht bleich im Mondschein. Der einzige Lebensfunke war der blitzende kleine Diamant in einem ihrer Nasenflügel.
    Es war Alyssa Mahjoubi – Saïds jüngste Tochter –, die da tot am Ufer des Tannes lag, um zwei Uhr morgens.

11

    Donnerstag, 19. August
    Als Schüler des Priesterseminars mussten wir einen Kurs in Erster Hilfe machen. Ich erinnere mich gut daran, wie peinlich es war, bei der Puppe des Kursleiters Mund-zu-Mund-Beatmung zu üben, denn die Puppe war eine vollbusige Dame, die er Cunégonde nannte. Und ich weiß noch genau, wie meine Kommilitonen lachten, als ich bei meinen Versuchen, Cunégonde wiederzubeleben, kläglich scheiterte.
    Aber etwas, das man einmal gelernt hat, kommt wieder, wenn man es am dringendsten braucht. Bei Cunégonde hatte ich nicht viel Erfolg gehabt, aber bei Alyssa Mahjoubi trieb mich der Mut der Verzweiflung an – ich stülpte meine Lippen über ihren Mund und versuchte, das Mädchen zum Atmen zu zwingen, und mit der Hilfe von Flehen, Schimpfen und schließlich doch auch Beten gelang es mir, sie mit meinen Fäusten in die Welt der Lebenden zurückzutrommeln.
    »Gott sei Dank! Oh, lieber Gott, ich danke dir!« Inzwischen war ich selbst halb tot. In meinem Kopf drehte sich alles, mein Brustkorb schmerzte, und obwohl es eine milde Nacht war, zitterte ich vor Kälte.
    Alyssa Mahjoubi hustete Flusswasser aus. Nach einer Weile setzte sie sich auf und schaute mich an, mit Augen, die den Himmel verschluckt zu haben schienen. Sie stand garantiert unter Schock. Ich bemühte mich, mit sanfter Stimme zu sprechen.
    »Mademoiselle …«
    Bei dieser Anrede zuckte sie zusammen. Ich hätte sie mit Alyssa ansprechen sollen. Aber die Menschen sind oft so empfindlich, und ich hatte bei meiner Lebensrettungsaktion mit Sicherheit schon gegen weiß der Himmel wie viele islamische Vorschriften verstoßen – deshalb hielt ich es für angebracht, mich an die Regeln der Höflichkeit zu halten.
    Ich nahm noch einen Anlauf. »Ist alles so weit in Ordnung?«
    Wieder zuckte sie zusammen.
    »Keine Angst, Sie können mit mir reden. Ich bin’s, Francis Reynaud. Erinnern Sie sich an mich?« Vielleicht erkannte sie mich nicht ohne Kragen und Soutane. Ich versuchte es mit einem Lächeln. Keine Reaktion. »Sie müssen irgendwie ins Wasser gefallen sein. Zum Glück war ich in der Nähe. Können Sie aufstehen? Ich bringe Sie nach Hause.«
    Sie schüttelte energisch den Kopf.
    »Was dann? Soll ich einen Arzt rufen?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf.
    »Möchten Sie jemanden von Ihrer Familie anrufen? Ihre Schwester vielleicht? Oder Ihre Mutter?«
    Wieder die gleiche Geste. Nein. Nein. So langsam packte mich die Verzweiflung. Und Alyssa zitterte mindestens so schlimm wie ich.
    Also versuchte ich es mit der scherzhaften Methode. »Na ja, wir können ja nicht die ganze Nacht hier sitzen.«
    Keine Antwort. Das junge Mädchen kauerte nur stumm am Ufer, die Arme um die Knie geschlungen, und atmete keuchend. Sie sah aus wie eine Maus, die vor einer Katze gerettet wurde, unverletzt, aber in tödlicher Schockstarre. Das passiert oft bei Mäusen, und sie sterben dann meistens tatsächlich.
    Da geht mein guter Ruf dahin, dachte ich. Es war ja schon schlimm

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