Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
dass dieser alte Mann seinem Sohn immer noch ein paar Dinge beibringen kann.« Sie schwieg einen Moment, um ihren hijab zurechtzuzupfen. »Hee! Dieser Wind. Dieser fürchterliche Staub. Er flüstert den Leuten alles Mögliche ins Ohr. Meine Zahra fürchtet, der Staub kommt ihr in den Mund und dass sie dadurch das Fasten bricht. Yasmina bekommt Kopfschmerzen. Und meine kleine Maya kann nicht stillhalten, sie plappert wie eine überdrehte Maschine. Niemand schläft. Niemand betet. Alle zucken bei der kleinsten Kleinigkeit zusammen.« Wieder musterte Omi Rosette. »Aber du und ich, wir beide wissen Bescheid, stimmt’s? Wir sagen, wenn der Wind weht, dann setz dich drauf und reite los.«
Rosette lachte und sagte in Gebärdensprache: Hü-hott!
Wieder lächelte Omi. »Ganz genau. Du brauchst gar nicht zu reden. In einem Beutel Walnüsse sind es die leeren Nüsse, die am meisten Lärm machen.« Sie schaute jetzt auf die andere Straßenseite, wo drei junge Frauen im niqab vorbeigingen, die lachten und sich angeregt unterhielten. Alle drei trugen Schwarz, aber eine hatte um den Schleier, der ihr Gesicht in zwei Hälften unterteilte, ein neonrosa Band gebunden. Lächelnd winkte ich ihnen zu. Sofort hörten sie auf zu plappern. Erst als sie ein Stück weiter weg waren, hörte ich, wie das Geschnatter wieder losging, allerdings wesentlich leiser als vorher, und sie lachten auch nicht mehr.
Omi schüttelte den Kopf. »Pff. Das war Aisha Bouzana mit ihren Freundinnen Jalila El Mardi und Rana Jannat. Alberne Quasselstrippen, alle drei miteinander. Rattern wie leere Nüsse. Verbreiten ihr Gequatsche im ganzen Dorf. Wusstest du, dass Aisha – das war die mit dem rosaroten Band – meiner Yasmina gesagt hat, Mayas Name sei nach islamischem Gesetz gar nicht erlaubt? Sie sagt, der Name kommt von einer Göttin in irgendeinem alten heidnischen Kult. Als würde sie das wirklich interessieren. Sie will doch nur Aufmerksamkeit erregen, mit allen Mitteln. Genau wie mit ihrem niqab. Bevor Karim Bencharki hierhergekommen ist, hat sie nie einen getragen. Die anderen jungen Frauen auch nicht. Aber plötzlich, wenn ein gutaussehender Mann mal so nebenbei erwähnt, dass er den niqab gut findet, fangen sie alle an, einen Schleier zu tragen, und kontrollieren sich noch gegenseitig.« Sie musterte mich belustigt. »Sag bloß nicht, du hast ihn noch nicht bemerkt. Sieht aus wie ein Engel. Wohnt im Gym.«
Ich nickte. »Doch, doch, er ist mir gleich aufgefallen.«
Omi lachte schrill. »Damit bist du nicht allein.«
»Und was ist mit seiner Schwester?«
»Inès.« Plötzlich wurde ihr Gesicht ganz leer. »Wir haben nicht viel mit ihr zu tun. In letzter Zeit bleibt sie sowieso fast immer zu Hause. Sie war als Lehrerin nicht beliebt.«
»Warum nicht?«
Die alte Frau zuckte wieder die Achseln. »Wer weiß? Aber ich muss jetzt leider los. Meine kleine Maya wartet auf mich. Wir wollen Pfannkuchen machen. Nicht für jetzt gleich natürlich. Aber später essen wir crêpes aux mille trous, dazu Mehlsuppe mit Zitronen und Datteln. An Ramadan fasten zwar alle Leute, aber wir denken den ganzen Tag nur ans Essen, wir kaufen ein, bereiten die Mahlzeiten vor, bieten unseren Nachbarn Speisen an, wir träumen sogar vom Essen – das heißt, wenn der Wind uns erlaubt zu schlafen. Ich werde marokkanische Süßigkeiten mitbringen, ein paar Makronen und kaab el ghazal mit Mandelfüllung und Mandelmeringues und natürlich süße Sesamkekse. Und vielleicht kannst du mir das Rezept für deine Pralinen geben.«
Ich blickte ihr ein bisschen verwirrt nach. Dass selbst Omi Al-Djerba, die so fröhlich alle Konventionen missachtete und die es nicht die Bohne interessierte, was die Nachbarn über sie denken könnten – dass selbst sie zögerte, mit mir über Inès Bencharki zu reden, brachte mich durcheinander.
Rosette zeigte: Ich mag sie.
»Ja, Rosette. Ich mag sie auch.«
In vieler Hinsicht erinnert mich Omi an Armande, deren unersättlicher Appetit auf alles – Essen, Trinken, Tratsch, das Leben – ihre Familie früher richtig schockiert hat. Aber Omis Familie ist anders. Dort liebt und verehrt man die Menschen, die alt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Al-Djerbas je auf die Idee kommen könnten, das zu tun, was Caro Clairmont tun wollte: ihre Mutter so lange einschüchtern, bis sie in ein Heim geht, oder sie daran hindern, ihr Enkelkind zu sehen.
Die Straßen von Les Marauds waren wieder wie leergefegt, als ich mich auf den Weg zu Armandes Haus
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