Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
vergangenen Jahr, die am dunkelsten Punkt des Jahres wie ein Versprechen ist, dass die Sonne bald wieder scheinen wird. Man denkt an vier Steinwände, ein Dach und den Wechsel der Jahreszeiten – am selben Ort, alles bleibt gleich, Jahr für Jahr, mit süßer Vertrautheit. Marmelade schmeckt nach zu Hause.
»Also dann.« Ich bedeckte den Topf mit dem Musselintuch. »Morgen füllen wir alles in Gläser.«
Alyssa nickte. »Okay.«
Ich versuchte nicht, gleich wieder an die Nähe von vorhin anzuknüpfen. Mayas Erscheinen hat die Verbindung unterbrochen, die ich zu Alyssa gefunden habe. Aber immerhin – es gab eine Verbindung. Und ich glaube fest daran, dass ich sie bald wiederherstellen kann. Jetzt müssen wir uns auf unsere Gäste vorbereiten, ein Essen planen, Kuchen backen. Was auch immer Alyssas Geheimnis sein mag –
Es wird warten. Genau wie die Pfirsiche.
9
Sonntag, 22. August
Père Henri Lemaître ist heute sehr beschäftigt. Erst die Morgenmesse in Lansquenet, danach sind Florient, Chancy und Pont-le-Saôul an der Reihe. Seit Lansquenet auch zu seinen Gemeinden gehört, hat er die Wochentagsgottesdienste in den kleineren Gemeinden reduziert, aber die Sonntagsmesse ist am Tannes immer noch extrem wichtig. Während ich jetzt hier auf der Brücke stehe, höre ich überall die Glocken läuten, der Autan trägt ihren Klang zu mir herüber – das Glockenspiel von Saint-Jérôme, die Zwillingsglocken der Kirche Sainte-Anne in Florient, der etwas brüchige Klang der kleinen Glocke in der Kapelle von Chancy. In der Luft ist so viel los, dass es mir falsch erscheint, selbst nichts zu tun, aber ich stehe hier herum wie ein Tourist, ohne meine Soutane.
Aber ich will mich nicht verstecken, mon père. Soll die Herde denken, was sie will. In ihren Sonntagsanzügen streben die Gemeindemitglieder zur Kirche, die Hüte tief in die Stirn gezogen, damit sie nicht wegfliegen, die Frauen in Stöckelschuhen, mit denen sie unsicher über das Kopfsteinpflaster trippeln. Sie sehen alle aus, als würden sie sich irgendwie schämen – aber gleichzeitig auch triumphieren. Widerborstige Schafe, die wissen, dass der Hund einen Dorn in der Pfote hat. Ich weiß, was sie denken. Reynaud hat seine Strafe verdient. Geschieht ihm recht – das hat er davon, dass er sich eingebildet hat, er steht über dem Gesetz.
Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis der Bischof sich äußert. Ich vermute, er lässt Père Henri Lemaître die Nachricht überbringen, dass ich versetzt werde – vielleicht in ein anderes Dorf, wo mein Ruf noch nicht angekratzt ist, vielleicht zu einer innerstädtischen Gemeinde in Marseille oder Toulouse, damit ich endlich lerne, wie wichtig die Beziehung zur Gemeinde ist und was eine entente cordiale zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen bedeutet. Père Henri besteht jedenfalls darauf, dass es keine Strafe ist. Die Kirche will ihre menschlichen Ressourcen einfach nur dort verwenden, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Ein Priester darf nicht selbst darüber entscheiden, wo und wie er eingesetzt wird. Ein guter Priester sollte demütig sein und die Opfer bringen, welche die Kirche ihm abverlangt. Er muss in seine Seele blicken und jede Spur von Selbstsucht und Stolz mit der Wurzel ausreißen. Aber Sie verstehen mich sicher, mon père, ich lebe schon immer in Lansquenet. Ich gehöre hierher, an diesen Ort mit seinen Kopfsteinpflasterstraßen und den schiefen Häuserreihen. Ich gehöre zu dieser Landschaft mit ihrem Muster aus Äckern und Feldern und den kleinen Bauernhöfen. Zu dem schroffen Wind, zu diesem Fluss, diesem Himmel. Dies ist ein völlig unbedeutender Ort – außer für die Menschen, die hier zu Hause sind.
Neulich habe ich zu Père Henri gesagt: Ein Priester hat keine Freunde. In guten Zeiten hat er Anhänger, in schlechten Zeiten nur Feinde. Durch seine Berufung, durch sein Gelübde setzt er sich von den anderen ab und muss mehr sein als nur menschlich. Tag für Tag balanciert er auf dem Hochseil des Glaubens und weiß, wenn er scheitert, werden diejenigen, die ihm gestern noch zugejubelt haben, sich gegen ihn wenden. Sie werden sich an seiner Schmach weiden und daran ergötzen, dass er abgestürzt ist.
Die Schafe sind schon kurz davor, sich abzuwenden. Nur wenige Leute haben mich heute Morgen gegrüßt. Guillaume Duplessis gehörte dazu, Henriette Moisson auch, aber Charles Lévy schaute weg, und Jean Poitou, von dem ich eigentlich mehr erwartet hätte, tat so, als wäre er in ein
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