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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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er durch die verkehrte Zeit irrte, aus Dummheit. Weil er Eisen mit Antlitz verwechselte. Das war ihm früher ständig passiert. Und er hatte geglaubt, er wäre mittlerweile normal geworden.
    Bald, dachte er, während er still dasaß, bald ist es soweit.
    Die Zeit verging, und seine rechte Hand und sein linkes Bein schmerzten, er nahm Tabletten, die guten, die er immer genommen hatte, wenn die Nerven verrückt spielten. Und der Genuß der Oblatten tröstete ihn nicht.
    Als er in der Zeitung las, daß Clarissa W. zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war, öffnete er die erste Bierflasche seit Wochen und trank sie aus. Die zweite Flasche hielt er mit beiden Händen fest und ging zum Fenster, stieß mit dem Flaschenhals gegen die Scheibe und prostete in den Innenhof hinunter, wo zwei Jungen zwei anderen Jungen zusahen, die sich prügelten.
    Nicht, weil er das Urteil zu mild oder ungerecht fand, leerte Gregorian vier Flaschen hintereinander, sondern weil die Nachricht ihn in eine Hochstimmung versetzte. Nach der Entscheidung des Gerichts würde Clarissa in absehbarer Zeit wieder ihren Club eröffnen, und alles wäre wie vorher. Und bald wäre jemand nicht mehr verkehrt in der Welt.
     
    In einem gestärkten grünen Hemd unter der Wildlederjacke, in seiner gereinigten grauen Hose und in einem außerordentlich gelockerten Zustand reihte er sich an einem Freitag im November in die Schlange der Männer vor dem Club Dinah ein. Sehr lange war er nicht mehr hiergewesen. Und er hatte auch nicht vor, lange zu bleiben. Er wollte ein kleines Bier trinken und Clarissa sagen, wie sehr er bedauere, sie damals belästigt und angelogen zu haben, seine Eltern wären keine wohlhabenden Apotheker gewesen und hätten ihm auch kein Haus vererbt, aber gesorgt hätte er dennoch für sie, Clarissa, hundertprozentig. Und er wollte ihr sagen, daß er sich über ihren Freispruch freue und ihr weiterhin großen Erfolg als Geschäftsfrau wünsche, etwas in der Richtung.
    Er bemerkte, wie der Mann vor ihm seinen goldenen Ehering vom Finger zog und in die Hosentasche steckte.
    Kurz darauf wies Mika, der Türsteher, den Mann mit der Begründung ab, der Club sei voll, das gleiche gelte auch für ihn, Gregorian, den Mika nicht wiedererkannte. Auch Gregorian hatte ihn zunächst für jemand anderen gehalten. In den vergangenen acht Jahren war Mika bulliger, finsterer geworden, er trug einen schwarzen Anzug und darunter ein schwarzes Hemd, das über seinem Brustkorb spannte.
    »Alles ausgebucht, mein Herr«, sagte er zu jedem Neuankömmling. Auf Bemerkungen oder Bitten reagierte er mit einem stummen, entschlossenen Kopfschütteln.
    Gregorian hatte nichts erwidert. Er hatte nicht einmal genickt. Er war zur Seite getreten, hatte überlegt, eine Nachricht für Clarissa zu hinterlassen, und sich dagegen entschieden.
    Aus seinem Auto beobachtete er das Kommen und Gehen vor dem einstöckigen Gebäude. Er öffnete das Handschuhfach und tastete nach der Plastiktüte mit dem Messer. Zeit zu handeln, dachte er und begann zu frieren.
    Innerhalb von Sekunden stieg die Kälte von seinen Füßen die Beine hinauf und breitete sich in seiner Brust wie eine Eisschicht aus.
    Seine rechte Hand zitterte so stark, daß er unfähig war, das Handschuhfach zu schließen. Er rang nach Luft. Er versuchte, den Knopf für die Fensterentriegelung zu drücken, und tappte mit dem Finger daneben. Er wollte den Zündschlüssel drehen, aber er brachte den Arm nicht in die Höhe. Er schwitzte.
    Gekrümmt von Krämpfen, ließ Gregorian den Motor an, betätigte den Scheibenwischer, obwohl es nicht regnete, wendete wie in Trance den Wagen und vergaß, das Licht einzuschalten. Das Hupen eines Autos, das ihm auf der Levelingstraße entgegenkam, schreckte ihn aus seiner Benommenheit auf. Aber er fuhr bis zur nächsten Ampel und schaltete erst dann das Licht ein.
    Nachdem er in der Riesenfeldstraße geparkt hatte, schwankte er über den Bürgersteig. Als er die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg, stolperte er und schlug mit der Stirn auf die Stufenkante und rutschte nach unten.
    Auf Händen und Füßen robbte er auf der Treppe nach oben, stemmte sich am Türrahmen in die Höhe, ließ den Schlüssel fallen und kauerte sich erschöpft an die Wand.
    In der Wohnung schaffte er es nicht, die Couch auszuziehen. In Kleidung und Schuhen legte er sich hin und fror erbärmlich. Wenn er für kurze Zeit einschlief, geriet er in verwirrende Geschehnisse voller Menschen und Stimmen, die niemals

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