Hinter blinden Fenstern
endeten.
Er hatte Durst und war zu schwach aufzustehen, er zog die Beine an den Körper, um sich zu wärmen, und hielt die Arme über den Kopf, als könne er so das unaufhörliche Hämmern abstellen.
Einmal torkelte er ins Bad, trank Wasser aus der Leitung und wusch sich das Gesicht und übergab sich in die Toilettenschüssel.
Gregorian konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal krank gewesen war. Er hatte geglaubt, er wäre zu alt, um auf diese Weise krank zu werden. Er lag auf der Couch und wimmerte. Kaum schloß er die Augen, versank er in einem Strudel von Gesichtern, von denen er jedes einzelne wiedererkannte. Alles, was sie sagten, hatte er schon einmal gehört. Und sie hörten nicht auf zu sprechen.
Im vollbesetzten Biergarten auf dem Nockherberg klirren die gläsernen Maßkrüge. Von der Abendsonne beschienene Trinker prosten einander zu. Die Kronen der Kastanien sind angefüllt mit Schwärmen von Stimmen. Auf einem Podest zwischen den durch einen geteerten Weg zum Gasthaus abgetrennten Teilen des Biergartens spielt eine Blaskapelle. Die Klänge der zwei Trompeten, der Tuba, der Klarinette und des Schlagzeugs vermischen sich mit dem Kreischen von Kindern, die über die Kieswege rennen. Ihr Geschrei und die Musik sind so laut, daß Gregorian die Worte seines Gegenübers nur teilweise versteht.
»Was?« schreit er. »Was für ein Zelt? Rieber?«
»Sieber.«
»Was?«
»Kennst du den Metzger nicht? Sieber.«
»Hab ich noch nie gehört«, schreit Gregorian. Seine Stimme dröhnt ihm in den Ohren und ist ihm peinlich.
»Gehst du nie auf die Wiesn?«
Hans Fehring, denkt Gregorian, brüllt genauso wie er, aber er verzieht den Mund überhaupt nicht und wirkt nicht angestrengt, er öffnet den Mund nicht einmal richtig, trotzdem ist seine Stimme in dem Trubel unüberhörbar.
»Ich war vor zwanzig Jahren zum letztenmal da.« Seine eigene Stimme kommt Gregorian schrill und fremd vor.
»Dieses Jahr kommst du zu uns«, sagt Fehring und hebt seinen Maßkrug und schlägt ihn gegen den von Gregorian, der sich unter den Geräuschen duckt, als prasselten Kastanienigel auf ihn herab.
Neben ihm und gegenüber sitzen Fehrings Fußballfreunde, Männer zwischen Ende zwanzig und Anfang fünfzig. Sie essen große Brezen und Wurstsalat und Hendl, und sie unterhalten sich und lachen und rauchen und scheinen sich schon ewig zu kennen.
Den Platz an der Isar, wo sie Fußball spielten, in der Nähe der Eisenbahnbrücke, hatte Gregorian schnell gefunden. Fehring zu verfolgen ist ein Kinderspiel, hatte Gregorian gedacht. Kinderspiel.
Er hört das Wort Kinderspiel, immer wieder. Er sieht die Kinder über den knirschenden Kies flitzen, sie bewerfen sich mit Kieseln, sie kreischen aus vollem Hals.
Kinderspiele.
»Kinderspiel«, sagt er, doch seine Stimme ist zu leise, niemand hört ihn. Kinderspiel.
Er ist Fehring hinterhergefahren und hat zugesehen, wie sie auf die Tore schießen, über die Uferwiese dribbeln und sich Befehle und Warnungen zurufen. Er ist nicht der einzige Zuschauer, auch junge Frauen stehen am Rand des nicht genau definierten Spielfelds und klatschen und gehören dazu. Er steht abseits. Einmal rollt der Ball auf ihn zu, er kickt ihn zurück. Einer der Männer, der eine kurze rote Hose und ein gelbes Trikot trägt, bedankt sich, ohne ihn anzusehen, und schießt eine Flanke und hetzt auf das gegnerische Tor zu. Nach dem Spiel treffen sie sich auf dem Nockherberg, zehn Minuten Fahrzeit, bei schlechtem Wetter im Gasthaus, bei schönem Wetter draußen. Ein Sonntagsritual, drei-, viermal im Monat. So kam er mit Fehring ins Gespräch, wie zufällig, er fragte ihn aus und erfuhr Dinge, die er schon wußte.
»Heuer kommst du aber mit, Maxe«, schreit Fehring.
Unter diesem Namen ist Gregorian in der Runde bekannt.
»Kinderspiel«, sagt er. Oder er sagt es nicht, das Wort schwimmt durch seinen Kopf.
Das Wort schwamm immer noch durch seinen Kopf, als er die Augen aufschlug, schweißgebadet, nach Luft ringend. Die Luft im Wohnzimmer war trocken und heiß.
Er lag auf der Couch, Gesicht zur Rückenlehne, sein Herz schlug heftig, seine Beine zitterten, er spürte ein Stechen in der Brust.
Wie ein fernes Echo klang das Wort Kinderspiel in ihm nach. Und er hörte Fehring sagen: Wo warst’n du? Wir haben auf dich gewartet. Und obwohl er überzeugt war, sie hätten keine Sekunde auf ihn gewartet, erwidert Gregorian: Ich war krank, Sommergrippe, nächstes Jahr komme ich bestimmt mit. Und Fehring sagt: Sonst
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