Hinter blinden Fenstern
damit?« Obwohl er Schells Ausbrüche kannte, irritierte Weningstedt diesmal der barsche, negative Ton.
»Deine Susi«, sagte Schell zu Liz. »Meine Susi, unsere Susi und …« Er zeigte auf Fischer. »… deine Susi auch, als Mann des Glaubens. Die Susi ist unser aller subjektives Sicherheitsempfinden. Wenn sich das einstellt, dann sind wir glücklich. Der Bürger kuschelt sich und grüßt uns freundlich, weil er weiß: Wenn was passiert, ist er nicht allein, sondern da sind unsere elektronischen Augen, die sehen alles und immer.«
Er steckte die Hände in die Jackentaschen und streckte die Beine unter dem Tisch aus.
Alle blickten vor sich hin. Einige überdachten die Worte ihres Kollegen mit verschlossener Miene, andere schüttelten unmerklich den Kopf. Lautlos drehte Ohnmus mit dem Zeigefinger sein Diktiergerät. Der einzige, der scheinbar ungerührt dasaß, war Polonius Fischer. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der gekrümmten Nase – »Geiernase« , wie manche Kommissare den Zinken nannten – verriet nicht die geringste Aufwallung. Seine Augen ruhten dunkel auf dem Tisch, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt.
Als im Treppenhaus Schritte zu hören waren, sah Fischer als einziger nicht auf.
»Endlich«, sagte Weningstedt, wie erleichtert.
»Und was ist mit den Terroristen in London?« Liz redete abwechselnd zu Fischer und Schell. »Die wurden mit Hilfe der Überwachungskameras identifiziert. Innerhalb von drei Tagen. Und die beiden jungen Araber in Köln, die Sprengstoff in ihren Rucksäcken hatten – gestochen scharf auf den Bildern der Kameras. Und die Terroristen vom elften September sind auch fotografiert worden, die Attentate konnten nicht verhindert werden, aber die ganze Welt hat die Gesichter der Täter gesehen. In London läuft jeder Bürger hundertmal am Tag an einer Kamera vorbei, da hinken wir in Deutschland noch weit hinterher. Wir haben unsere Kriminalitätsschwerpunkte, aber das reicht nicht.«
Schell wedelte mit der Hand. »Du bist ja auch für totale Telefonüberwachung, und du hältst den biometrischen Paß für einen einzigen Segen. Begreifst du nicht, Liz? Wir stellen die Bürger damit ruhig, wir reden ihnen ein, daß wir auf sie aufpassen. Aber das tun wir nicht. Wir können es nicht.«
Er nickte zur Tür, wo Valerie Roland und Hauptkommissar Sigi Nick mit zwei vollen Plastiktüten aufgetaucht waren.
»Hat lange gedauert«, sagte Valerie. »Der Kartoffelsalat war aus, wir mußten auf frischen warten.«
»Wir sammeln Daten«, sagte Schell. »Und wir wissen nicht, wozu. Wir haben keine Zeit, die Daten auszuwerten. Deswegen bluffen wir damit. In der EU leben vierhundertdreiundneunzig Millionen Menschen, das ergibt pro Tag ungefähr fünfzehn Tera-Byte an Informationen. Hast du eine Vorstellung, wieviel das ist, Liz?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Im wahrsten Sinn des Wortes: eine Un-Menge. Eine Absurditätsmenge. Dem amerikanischen Geheimdienst lagen massenhaft Auskünfte über Verdächtige vor, sie haben Telefonate abgehört, sie haben Gespräche an öffentlichen Plätzen mitgeschnitten, sie hatten Fotos. Aber sie konnten nichts damit anfangen. Und wieso? Weil sie erst nach den Anschlägen kapiert haben, was sie eigentlich gesammelt hatten. Du mußt erst einen bestimmten Begriff eingeben, damit der Computer schnallt, was er ausspucken soll. Abgesehen davon verstößt diese Speichermanie gegen das Grundgesetz und die Europäische Grundrechte-Charta.«
»Ich behaupt doch nicht …«
»Du hast überall Kameras, der ganze öffentliche Raum ist voll davon. Über jedem Bank- oder Postschalter hängt eine Kamera. Kriegt der Bankräuber, den’s ja auch noch gibt, genau wie den Vergewaltiger oder Messerstecher oder Totschläger, kriegen die Angst? Nein, kriegen sie nicht. Sie töten trotzdem. Alles drauf auf dem Film. Da ist der Kerl. Da ist meine Frau in der Blutlache. Gestochen scharf …«
»Wir wissen doch, was mit deiner Frau passiert ist«, sagte Liz und sah Fischer hilfesuchend an. Er reagierte nicht.
»Glaubst du«, fuhr Schell fort, »die Terroristen in London haben nicht gewußt, daß im Land fünf Millionen Kameras rumhängen? Du willst alles kontrollieren? Mach aus dem öffentlichen Raum ein Gefängnis. Zieh gläserne Mauern hoch. Stell Wachtürme auf, Halogenscheinwerfer, Infrarotkameras. Schreib Listen mit den Namen jedes Bewohners. Zapf ihre Handys an, jeder ist verdächtig. Und die Unsichtbarsten sind die Gefährlichsten. Laß niemand aus den Augen,
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