Hinter blinden Fenstern
das können Sie sich nicht vorstellen. Vierter Stock, renovierter Altbau, Westend, Blick auf den Westpark. Steht der auf dem Balkon und schaut auf die Uhr. Schaut auf die Uhr. Weil er noch irgendwelche Reifen auswuchten muß. Oder Zündkerzen wechseln. Oder mit jemandem eine Probefahrt machen. Probefahrten waren seine Spezialität. Service am Kunden, hieß das. Wissen Sie, wie lange wir dann in der Wohnung gelebt haben? Fünf Monate. Und in jeder Sekunde dieser fünf Monate hab ich gespürt, daß er an nichts anderes denkt als daran, was die Wohnung gekostet hat. Und wie lang es dauern wird, bis er sie abbezahlt hat.« Sie griff nach den Zigaretten, steckte die Packung aber wieder ein. »Ich hab wunderschöne gelbe Vorhänge aufgehängt« , sagte Senta Haffner. »Ein neues buntes Sofa gekauft, einen Schrank, den man auch als Bar benutzen kann, ein bißchen kitschig vielleicht, aber originell. Das war alles zuviel für ihn. Und für mich irgendwann auch. Ich hab die Scheidung eingereicht und bin weg, erst mal zu einer Freundin. Dann hab ich mir ein Appartment in Neuhausen gemietet, in der Nähe vom Rotkreuzplatz. Da wohn ich immer noch. Einmal haben wir uns noch vor Gericht gesehen, dann nie wieder.«
»Hatte er die Wohnung da schon verkauft?«
»Hab ich nicht gefragt.«
Nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, rauchte sie, streifte Fischer mit einem Blick und schüttelte wieder den Kopf. »Ich hab sein Leben so satt gehabt. Diesen trübsinnigen, ewig gleichen Alltag. Die Leute mit ihren dämlichen Autos, die es immer eilig haben und einen Mechaniker wie einen Leibeigenen behandeln. Öl und Dreck, Ersatzteile hier und Ersatzteile da, und alles muß billig sein für die Leute. Wenn ich irgendwo in der Stadt ein demoliertes Auto gesehen hab, dann dachte ich, das steht morgen hundertprozentig vor Jos Garage. Und ich hätt kotzen können.«
»Sie haben ihn geheiratet.«
»Fragen Sie mich ja nicht, wieso, guter Mann.«
»Wieso haben Sie ihn geheiratet, Frau Haffner?«
Nach zwei Zügen sah sie Fischer in die Augen und blies den Rauch an ihm vorbei. Sie ging zu dem mit Sand gefüllten Aschenbecher neben dem Eingang des Instituts, steckte die Zigarette hinein und kam zurück.
»Ich hab mich in den Mann verschaut gehabt, und er war nett und hatte Zeit für mich. Und er hat viel erzählt, und er hat gut gerochen. Was weiß ich, warum sich alles verändert hat.«
Sie sah auf die Uhr.
Fischer dachte an den kräftigen Mann – »stattlich« hatte Anita Soltersbusch ihn genannt –, wie er auf dem Balkon steht und, anstatt die Aussicht zu genießen, ungeduldig auf die Uhr schaut und sich vielleicht vorkommt wie ein Baum im falschen Park.
»Danke, daß Sie sich doch noch Zeit genommen haben« , sagte Fischer.
»Ihre Bemerkung am Telefon hat mich ziemlich zornig gemacht«, sagte sie auf dem Weg zum Parkplatz an der Frauenlobstraße. »Und eigentlich hätte ich mich erst recht weigern sollen, Sie zu treffen. Weil ich so einen Ton nicht ausstehen kann.«
»Mein Ton war angemessen.«
Abrupt blieb Senta Haffner stehen. »Nur, weil ich zu Ihrem Kollegen vorher gesagt hab, ich hätte keine Zeit, was ja auch stimmt, brauchen Sie mir nicht in diesem drohenden Ton zu kommen.«
»Ich habe Sie nicht bedroht.«
»Sie haben behauptet, ich hätte Jo nach dem Leben getrachtet. So, als wär ich eine leibhaftige Verbrecherin.«
»Sie haben ihm nach dem Leben getrachtet«, sagte Fischer. »Sie wollten ihm sein eigenes wegnehmen.«
Staksig, als käme ihr plötzlich das gewöhnliche Gehen abhanden, entfernte sie sich. Wie von innen her bestrahlt, fielen die blonden Haare auf das Rot ihres Mantels. Nach einigen Metern hielt sie inne, senkte den Kopf und wandte sich mit einer ähnlich harschen Bewegung wie im Institut um.
»Und jetzt denken Sie wahrscheinlich, ich bin schuld, daß sein Leben in einem Müllcontainer zu Ende gegangen ist.«
»Nein«, sagte Fischer, der stehengeblieben war. »Daran ist der Mörder schuld.«
Sie nickte erleichtert. »Genau. Ganz genau.«
»Aber«, sagte Fischer, »entlastet Sie das?«
19 Das ONW-Prinzip
I n dem Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert brannte jeden Tag bis nach Mitternacht Licht. Während nebenan die letzten Besucher eines Konzerts das mittelalterliche, ehemalige Zerwirkgebäude verließen und durch die Altstadt zur U-Bahn am Marienplatz eilten, saßen elf Kommissare und Kommissarinnen an ihren Schreibtischen, über Computerausdrucke, Fotos, Ermittlungsakten gebeugt, und
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