Hinter blinden Fenstern
verglichen die Spuren zweier Mordfälle.
Die Fahnder stellten Verbindungen her, die sie noch nicht beweisen konnten. Sie schüttelten den Kopf über widersprüchliche Zeugenaussagen und die unheimliche Gemeinsamkeit der Verbrechen: das große Schweigen im Umkreis der Opfer und – vor allem im Fall Fehring – die Abwesenheit echter Trauer.
Entweder stand – wie bei dem Toten aus dem Müllhäuschen – die Identität noch nicht eindeutig fest und die Tatsache, daß in einem Wohnblock mit mehreren hundert Mietern eine Leiche entdeckt worden war, schien niemanden zu erschüttern. Oder die Freunde – wie bei dem Erstochenen vom Oktoberfest – schoben ihre Erinnerungslücken auf den Alkohol und zuckten mit den Achseln, wenn sie nach ihrer Beziehung zu dem Toten gefragt wurden. Und dessen ehemalige Lebensgefährtin gab sich nicht weniger wortkarg.
Daß Fischer mit Clarissa Weberknecht nach dem Mord an Fehring bereits zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Monaten zu tun hatte, beschäftigte ihn ebenso stark wie die Aussagen von Fehrings Freunden, nach denen offenbar ein weiterer Mann im Spiel war. Er hieß Max, sie nannten ihn Maxe, und die Hobbyfußballer hatten ihn ein paarmal gesehen und mit ihm sogar ein Bier getrunken. Wie er jedoch mit Familiennamen hieß und welchen Beruf er ausübte oder wo er wohnte, wußten sie nicht. Er habe sich fast ausschließlich mit Fehring unterhalten und ansonsten wenig gesprochen.
Den Namen dieses Mannes, hatte Clarissa in der ersten Vernehmung nach dem Tod ihres Freundes ausgesagt, habe Hans ihr gegenüber nie erwähnt, sie hätte sich bestimmt daran erinnert. Warum würden Sie sich daran erinnern? hatte Fischer gefragt, und sie hatte erwidert: Weil Hans mir alles erzählt hat.
Max. Maxe.
Niemand konnte ihn brauchbar beschreiben. Schlank sei er, groß, mittelgroß. Haarfabe? Schwer zu sagen. Möglich, daß er gehinkt hat. Ja, eigentlich habe er auf die Wiesn mitkommen wollen, aber es sei ja klar gewesen, daß er nicht kommt. Warum war das klar? Weil’s eben klar war, er hat ja auch nicht Fußball gespielt. Wenn er sich mit jemandem unterhalten habe, dann mit Hans. Worüber? Keine Ahnung.
Keine Ahnung.
Unzählige Male tauchte diese Formulierung in den Berichten auf, die Fischer und seine Kollegen wieder und wieder studierten.
Wie haben Fehring und Max sich kennengelernt?
Ich glaub, am Nockherberg, sagte einer.
Wann?
Keine Ahnung.
Irgendwelche Eigenschaften, Merkmale, Ticks, spezielle Ausdrucksweisen?
Keine Ahnung.
Zum fünftenmal lasen Fischer und Micha Schell ihre eigenen Vernehmungsprotokolle durch. Sie betrachteten die Skizzen auf der Papiertafel und mißtrauten mittlerweile jeder Zeichnung, jedem Pfeil, jedem Namen hinter oder vor einem Pfeil, jeder Uhrzeit.
Fünf Tage nach der Ermordung von Hans Fehring am Westhang des Oktoberfestes gelang dem Kommissariat III endlich die eindeutige Identifizierung des Toten aus Milbertshofen. Der Mann war ebenfalls vor fünf Tagen gestorben.
Ein meist unter der Witteisbacher Brücke hausender Obdachloser bestätigte gegenüber den Hauptkommissaren Gesa Mehling und Neidhard Moll, daß Jo – wie er richtig hieß, interessierte niemanden – seinem alten Stadtviertel Milbertshofen einen Besuch abstatten wollte, aus Gründen, über die er nicht sprach. Zur gleichen Zeit machten Georg Ohnmus und Sigi Nick vier weitere Stadtstreicher ausfindig, die ihren Kumpel auf dem Foto eindeutig wiedererkannten und von seiner Vergangenheit als relativ wohlhabender Geschäftsmann wußten.
Über Nachbarn in der Hohenwaldeckstraße, die sich an Josef Nest erinnerten, stieß Walter Gabler auf zwei Zahnärzte, von denen einer noch Unterlagen über seinen ehemaligen Patienten besaß. Daraufhin konnte Dr. Dornkamm das Zahnschema des Toten aus dem Müllhäuschen zuordnen und seinen Bericht abschließen.
Demnach wurde in der Nacht zum Montag, dem vierundzwanzigsten September, der zweiundsechzigjährige Josef »Jo« Nest in der Wohnanlage zwischen Anhalter Straße und Riesenfeldstraße erschlagen. Und zwar in derselben Nacht, in der wenige Stunden zuvor der in der gleichen Anlage wohnende neunundfünfzigjährige Steuerberater Hans Fehring erstochen worden war.
Liz Sinkel und Esther Barbarov hatten inzwischen alle Mieter angetroffen und befragt – mit Ausnahme eines einzigen: des achtundsechzigjährigen Rentners und ehemaligen Detektivs Bertold Gregorian.
Nach Meinung der wenigen Nachbarn, die Gregorian überhaupt kannten oder wenigstens
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