Hinter blinden Fenstern
tatsächlich vor ihr davongelaufen, die Levelingstraße hinunter, wie ein Kind. Dabei sei er mindestens fünfundsiebzig.
Woher sie wisse, daß der Mann im grauen Opel alt sei. Das habe ihr Mika erzählt. Dann entschuldigte sie sich kühl bei den Kommissaren. Sie habe in letzter Zeit kaum geschlafen, der Tod ihres Mannes, mit dem sie zwar nicht verheiratet, der aber seit vielen Jahren ihr einziger Freund gewesen sei, quäle sie Tag und Nacht. Sie habe schon überlegt, den Club eine Weile zu schließen und über ihr Leben nachzudenken. Aber das, hatte sie mit gequältem Lächeln hinzugefügt, könne sie sich nicht leisten, die Geschäfte liefen nicht besonders gut.
Für Micha Schell stand fest, daß die Frau log, was den Mann im grauen Opel betraf.
Polonius Fischer mißtraute ihr seit dem tödlichen Unfall vor einem Jahr, und das hatte ihm nichts genützt – bisher.
So oberflächlich die von Liz und Esther in der Riesenfeldstraße zusammengetragenen Personenbeschreibungen auch waren, sie ähnelten den Aussagen anderer Zeugen. Und eingedenk der provozierenden Verkettung von Lebensumständen in beiden Mordfällen riskierte Fischer an diesem Freitagabend – vorerst nur im engsten Kreis – eine Vermutung: Der seit fünf Tagen unauffindbare Bertold Gregorian war mit dem Max oder Maxe genannten Freund des erstochenen Hans Fehring identisch. Das wiederum würde bedeuten, daß Clarissa Weberknecht log. Log mit ihrer Behauptung, sie kenne keinen Max und habe keine Ahnung, wer der Mann im grauen Auto gewesen war.
Außerdem wartete Fischer auf den Anruf eines Streifenpolizisten aus Milbertshofen.
Auf dem Boden hockend, füllte Fischer mit seiner ausufernden Schrift eine weitere Seite des karierten Blocks.
Wenn Clarissa Weberknecht gelogen hatte, hieß das im extremsten Fall: Sie kannte den Mörder ihres Lebensgefährten.
Warum deckte sie ihn?
Wenn Gregorian Hans Fehring erstochen hatte – aus welchem Grund? Und warum wußte niemand von der Bekanntschaft der beiden?
Eine wußte davon: Clarissa.
Wo war Gregorian jetzt? Warum nannte er sich Max?
Und der Tod des Stadtstreichers Josef Nest? Zwischen ihm und Fehring existierte nicht die kleinste Verbindung, ebenso wenig zwischen Nest und Clarissa.
Auf dem Foto hatte Mika Petrov den ehemaligen Werkstattbesitzer nicht erkannt und erklärt, er sei sicher, den Mann nie gesehen zu haben. Clarissa behauptete dasselbe.
Dann rief der Streifenpolizist aus Milbertshofen an.
In einer Parkbucht an der Riesenfeldstraße stehe ein grauer Opel Vectra mit dem Kennzeichen M-EK 3027, der Wagen sei auf einen Bertold Gregorian zugelassen, an der Windschutzscheibe klemme seit drei Tagen ein Strafzettel. Fünfzig Euro.
Fischer bat den Polizisten, das Auto zu fotografieren und auf weitere Anweisungen zu warten.
Obwohl der Ermittlungsrichter von den Indizien, die Fischer, Weningstedt und Schell ihm gegen ein Uhr nachts vorlegten, nicht hundertprozentig überzeugt war, genehmigte er aufgrund der Schwere der beiden Verbrechen und der dubiosen Koinzidenzen eine Hausdurchsuchung.
Eine Stunde später öffnete ein Mitarbeiter des regelmäßig für die Kripo arbeitenden Schlüsseldienstes die Wohnungstür von Bertold Gregorian.
20 Ein kleines blaues Heft
M inutenlang sprach keiner der drei Männer ein Wort.
Einer hinter dem anderen gingen sie durch die Räume, die Hände in den Hosentaschen, sorgsam darauf bedacht, keinen Gegenstand aus Versehen umzustoßen oder die chaotische Anordnung der Dinge zu verändern.
Überall lagen Scherben von Gläsern und Geschirr, beide Wohnzimmersessel waren umgekippt, der Teppich war übersät von Zeitungen und Illustrierten. Der Tisch stand quer. Die Glastür des Schranks war zerborsten, die Splitter lagen im ganzen Zimmer.
Was die Kommissare sahen, waren die Spuren eines Kampfes, allerdings nur im Wohnzimmer, nicht im Schlaf- und nicht im Badezimmer, nicht in der Küche. Abgesehen von dem verwüsteten Raum befand sich die Wohnung in einem aufgeräumten Zustand.
Eine Weile betrachteten Fischer, Weningstedt und Schell wie auf ein geheimes Zeichen hin nur den Boden. Dann hoben sie gleichzeitig die Köpfe und richteten ihre Aufmerksamkeit zuerst auf eine, dann auf die beiden anderen Wände, bevor sie sich dem Fenster zuwandten.
Jedem von ihnen fiel dasselbe auf: Trotz der ins Auge springenden Anzeichen von Zerstörung fehlten jegliche Spuren von Blut oder andere Hinweise auf die beteiligten Personen. Nirgendwo ausgerissene Haare, Stoffetzen,
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