Hinter blinden Fenstern
Stühlen. Vom Flur her waren das Klingeln der Telefone und vereinzelt Stimmen zu hören. Wie immer standen alle Türen zum Treppenhaus offen. In jedem Büro brannte Licht.
Jetzt, mittags um zehn nach eins, befanden sich alle elf Kommissarinnen und Kommissare im Haus.
In ihrem Büro, das auch als Empfangs- und Warteraum diente, servierte Valerie Roland dem Ehepaar Soltersbusch sowie einer jungen, stark geschminkten und aufdringlich parfümierten Frau Kaffee und Spekulatiuskekse aus einer bunten, offenbar unerschöpflichen Blechdose.
Die junge Frau arbeitete im Club Dinah, und Anita Soltersbusch starrte sie ebenso an wie ihr Mann, vermutlich jedoch aus anderen Gründen. Die Barfrau würde erst nach den beiden drankommen, aber das wußte sie nicht.
Einen Stock höher war Fischer von seinem Schreibtisch aufgestanden. Er sah über Schell hinweg zur Tür. Der bizarre Gedanke, den sein Kollege ihm ins Hirn gepflanzt hatte, trieb ihn um und trieb ihn hinaus.
»Ich fahre noch einmal in den Wohnblock«, sagte er. »Bis in zwei Stunden bin ich zurück, dann entscheiden wir, wie wir mit Clarissa Weberknecht weitermachen.«
»Herbringen und zersägen, die Jungfrau«, sagte Schell.
Gabler erhob sich, schnaufte und setzte sich wieder. »Unsere Spurensucher haben Fingerabdrücke von ihr gefunden« , sagte er.
»Wo, in der Wohnung?« fragte Schell.
»Nicht in der Wohnung«, sagte Gabler. »Im Müllhäuschen.«
Beide Kommissare erwarteten von Fischer neue Anweisungen. Doch alles, was er zunächst veranlaßte, war die sofortige Observierung von Clarissa.
Bevor er weitere Schritte unternahm, mußte er erst die irre, den Weg seiner analytischen Gedanken vollständig blockierende Idee seines Kollegen Micha aus dem Kopf bekommen.
Und so kehrte er in jene Wohnung zurück, von der aus er acht Monate zuvor zum erstenmal einen Blick auf einen Innenhof geworfen hatte, der damals noch kein Verbrechensort gewesen war.
DRITTER TEIL
24 Aus weiter Ferne
A ls erstes fielen ihm die Haare auf. Er sagte nichts. Er sah hin, während der andere den Kopf zum Fenster drehte, verbarg sein Staunen hinter einer Geste, indem er sich zweimal mit den Fingern durch die Haare fuhr. Und er hatte sein Lächeln rechtzeitig beendet.
»In diesem Sommer war ich ein paarmal auf dem Balkon« , sagte Walter Madaira. »Und beim Einkaufen war ich auch. Und schon zweimal wieder im Funkhaus.«
»Das ist großartig«, sagte Polonius Fischer.
»Möchten Sie sich nicht setzen?«
»Ich will Sie nicht stören.«
»Ich habe Sie hereingelassen.«
»Weil ich Polizist bin.«
»Das ist doch egal. Nehmen Sie den weißen Stuhl.«
Madaira setzte sich an den Schreibtisch vor der Wand mit dem Landschaftsposter. Er strich über die leere Tischplatte, bevor er sich auf dem Drehstuhl zu Fischer umwandte.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an.
»Fällt Ihnen etwas auf?« fragte Madaira.
»Ihre Haare.«
Der Schauspieler gab einen eigentümlichen, kindlichen Laut von sich, seine Lippen zuckten, und er hob die Augenbrauen. »Sind wieder gewachsen«, sagte er. »Und ich schwitze weniger. Ich war der Großtranspirator von Milbertshofen. Zehnmal am Tag mußte ich mich waschen, hat nichts genützt. Und ich habe mich blutig gekratzt, so sehr hat es mich überall am Körper gejuckt. An den abseitigsten Stellen.« Nach einem Schweigen sagte er: »Warum erzähle ich Ihnen das? Oh.«
Um seinen Mund breitete sich ein spitzbübisches Lächeln aus.
»Hören Sie das?«
»Was?« sagte Fischer.
»Wie ich spreche. Ich kann sprechen. Mit Ihnen. Mit einem Fremden. Ich habe lange nicht so gesprochen. Wie automatisch. Sie klingeln bei mir, ich öffne Ihnen die Tür, und wir fangen eine Unterhaltung an.« Wieder zog er mehrmals hintereinander die Brauen hoch. Es sah beinah aus, dachte Fischer, wie eine ungelenke Art zu flirten. Aber wenn es so wäre, dann flirtete Madaira nicht mit ihm, sondern mit sich selbst. In den türkisfarbenen Augen des Schauspielers funkelte eine Freude, die mit jeder Minute größer zu werden schien. Zwischen den Sätzen spitzte er manchmal den Mund, wie zum Kuß. »Und warum? Vielleicht, weil ich es schön finde, daß Sie mich mal wieder besuchen.«
»Sie erinnern sich an mich?«
»Ihr Hut.« Madaira zeigte auf den grauen Stetson, den Fischer im Schoß hielt. »Ich habe einen ähnlichen, er ist blau und nicht so stilvoll wie Ihrer. Aber er sitzt fest und haut nicht beim kleinsten Wind ab.«
Er lächelte und nickte. »Das ist nur ein Scherz. Ihren Hut habe
Weitere Kostenlose Bücher