Hinter blinden Fenstern
dreiundfünfzig. In dem Stuhl saß früher immer meine Frau.« Er verstummte. Bevor er weitersprach, zuckten seine Lippen. »Der Mann war sehr dünn, und er hatte einen Rucksack, er wirkte gebrechlich, heruntergekommen. Die Frau Soltersbusch kannte ihn anscheinend.«
»Haben die beiden sich zufällig getroffen?«
»Ich glaube schon. Sie ist mit ihm weggegangen, die Anhalter Straße runter. Er hat gehinkt oder ist geschwankt.«
»Sah er aus wie ein Stadtstreicher?« fragte Fischer.
»Das wollte ich so nicht sagen.«
»Und Frau Soltersbusch kannte ihn.«
»Ja. Sie haben miteinander geredet, das heißt, sie hat geredet, er hat zugehört und seine Hand ausgestreckt. Sie hat sie aber nicht genommen, und er hielt die Hand ausgestreckt, bis sie gelacht hat.«
»Sie haben also schon vorher hinuntergesehen«, sagte Fischer. »Bevor Sie das Lachen hörten.«
»Stimmt wahrscheinlich.« Madaira verzog den Mund.
»Aber nur kurz davor. Ja. Ich hab gesehen, wie der Mann die Hand ausgestreckt hat, sie hat nämlich gezittert. Die Hand. Der ganze Arm. Der Mann wirkte wirklich kaputt, wenn ich das sagen darf.«
»Was die beiden gesprochen haben, konnten Sie nicht verstehen.«
»Nein. Und das wollte ich auch gar nicht. Ich hab auch Angst gehabt, daß Herr Soltersbusch plötzlich rauskommt, sein Balkon ist ja direkt neben meinem, und dann hätte er gedacht, ich spioniere.«
»Herr Soltersbusch stand nicht auf dem Balkon.«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Nein.« Mit einer kantigen und abweisenden Bewegung drehte Madaira sich zum Schreibtisch um, als wolle er den Besucher aus seiner Gegenwart scheuchen.
Fischer stand in dem Zimmer mit der verbrauchten Luft und dachte an die Worte seines Kollegen Micha Schell. Vor ihm öffneten sich mehrere Fenster zur gleichen Zeit und er schaute von einem zum anderen und konnte nicht fassen, wie nachgiebig und unaufmerksam er gewesen war.
Da er immer noch gebeugt dastand, richtete er sich auf und machte einen Schritt auf den Schauspieler zu. Auf einmal fiel ihm ein, wie dieser ihn im Januar verabschiedet hatte. Und dieser Gedanke zügelte ruckartig seine Ungeduld.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Herr Madaira?«
Verwirrt zupfte der Schauspieler wieder an seinen Haaren.
»Dürfte ich noch einen Song von Bob Dylan hören? Nur einen kurzen.«
»Warum?« fragte Madaira und streckte schon die Hand nach der Fernbedienung aus, die am Rand eines mit Videokassetten vollgestellten Bücherregals lag.
»Das weiß ich nicht«, sagte Fischer.
»Sehr gern.« Etwas in Madairas Augen begann wieder zu funkeln. »Dann spiele ich Ihnen ein Lied vor, das nicht von ihm ist, aber er hat es einmal aufgenommen wie viele andere. Ich höre die CD zur Zeit oft.«
Nach den ersten Takten und Versen sagte Fischer: »Den Song kenne ich.«
»Wer nicht?« sagte Madaira.
Und weil Polonius Fischer mit geschlossenen Augen zuhörte …
… He said his name, Bojangles, then he danced a lick across the cell …
… bemerkte er erst, als er sich entschied zu gehen, was der andere tat.
In sich gekehrt, wie allein und frei in den eigenen Wänden, tänzelte Walter Madaira durchs Zimmer. Beschwingt streckte er die Arme aus, achtete mit gesenktem Kopf auf seine Schritte, bewegte sich im komplizierten Rhythmus des Liedes vor und zurück, seitwärts zum Fenster hin, drehte sich lautlos im Kreis und spitzte den Mund und …
… He clicked his heels, then he let go a laugh, shook back his clothes all around …
… hob beim Refrain die Schultern und bewegte sich geschmeidig an Fischer vorbei in den Flur, der Musik vollkommen ergeben. Er öffnete die Wohnungstür. Als Fischer ihm die Hand gab, sagte Madaira: »Ich glaube, jetzt geht mein Sprechen wieder.«
»Aber Sie waren doch schon im Funkhaus.«
»Stimmt. Aber nicht zum Arbeiten. Ich wollte nur die Studioluft atmen.«
Vor dem Haus sah Fischer hinauf in den ersten Stock. Auf dem Balkon, neben dem weißen Kunststoffstuhl, stand Walter Madaira in seiner braunen Hose, dem graukarierten Hemd und mit seinem dunkelblauen Hut und hatte den Arm gehoben.
Er winkte.
Als Fischer, was er sonst nie tat, seinen Stetson lüftete, verbeugte sich Madaira wie auf einer Bühne, verharrte einen Moment und verschwand, indem er mit schnellen trippelnden Schritten rückwärts ging, im Dunkel seiner Wohnung.
Noch bevor er in seinem Büro angekommen war und Weningstedt die neuen Informationen mitteilen konnte, überfielen ihn drei seiner Kollegen mit Erklärungen und
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