Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
aufbrechen«, flüsterte er und knuffte den Stalker in die Seite.
»Du hast doch selbst gesagt, dass es eine extrem riskante Aktion ist«, erwiderte Taran, nahm die lästige Gasmaske ab und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
»Aber noch riskanter wäre es, die Sache ohne Partner in Angriff zu nehmen«, entgegnete der Mutant.
»Aber …«
»Weißt du was?«, unterbrach Gennadi den Stalker. »Wenn ich Angst um meinen Arsch hätte, wäre ich in der Metro geblieben. Ich komme mit. Basta. Thema erledigt.«
»Na gut, Riese«, kapitulierte Taran. »Bist du wenigstens schon mal getaucht?«
»Na logisch! Nur ohne Druckluft … Erinnerst du dich noch an meine Taucheinlage damals am Petersburger Damm?«
»Keine allzu nützliche Erfahrung«, sagte der Stalker schmunzelnd. »Mit Ausrüstung wird es schon ein bisschen komplizierter. Aber macht nichts. Ich gebe dir Nachhilfestunden.«
Migalytsch war über die geplante Aktion alles andere als begeistert. Er nickte sparsam und nahm dem Stalker das Versprechen ab, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Der Alte seinerseits versprach, auf die Kinder aufzupassen.
Leise plätschernd entfernte sich das Boot von der Tragfläche des Ekranoplans. Die geschmeidig durchs Wasser pflügenden Tritonen schwammen voraus. Nach kurzer Zeit verschwanden die Silhouetten der Stalker im Nebel.
Gleb rückte vom Bullauge ab und starrte unschlüssig vor sich hin. Sein Vater riskierte es, hinter den Horizont zu blicken. Würde auch er selbst den Mut dazu haben?
»Migalytsch, Aurora!«, rief der Junge. »Wir müssen etwas sehr Wichtiges besprechen.«
Das Mädchen kam wie der Blitz angeschossen und biss sich vor Ungeduld auf die Lippe. Sie konnte kaum erwarten, was der Junge zu sagen hatte. Migalytsch näherte sich ohne Eile, mit dem schlurfenden Schritt eines vom Leben gezeichneten Greises. Doch seine Neugier konnte auch er nicht verbergen.
»Wir hören, Gleb.«
Der Junge zögerte noch kurz, doch dann fasste er sich ein Herz und ließ die Bombe platzen:
»Wir müssen weiterfliegen. Sofort …«
Das Rauschen der Brandung … Das Plätschern der Wellen draußen … Das durch Mark und Bein dringende Dröhnen der Triebwerke … Das Gepolter der leeren Fässer, die über den Boden rollten … Das unverständliche Gemurmel hinter der Trennwand …
Zunächst waren es nur Geräusche. Doch dann, als das Bewusstsein verzweifelt versuchte, aus dem stockfinsteren Nichts, in das es gefallen war, herauszukommen, tauchte hinter dem Schleier des Vergessens ein Mosaik verschwommener Bilder auf. Graue Schatten, die in der ringsum herrschenden Dunkelheit zunächst kaum zu erkennen waren, jedoch allmählich Farben und Konturen annahmen. Die Bilder wechselten so beängstigend schnell, dass das Geschehen irreal wirkte. Doch dann kristallisierte sich ein einzelnes Bild heraus, das stabil war und für eine Wahnvorstellung viel zu real. Eine Momentaufnahme, die sich ins Gedächtnis geprägt hatte, kurz bevor das Bewusstsein erloschen war. Ein Bild, das wie ein glühendes Eisen in der Seele brannte und furchtbare Todesangst aufflammen ließ.
Sterbe ich? Oder bin ich schon tot?
Die borstige Bestie, die kurz nach Sungat in den Laderaum des auslaufenden Ekranoplans geklettert war, hatte sich als erheblich flinker erwiesen, als der in vielen Kämpfen gestählte Steppenhund es für möglich gehalten hätte. Mit drohendem Zirpen war die Ameisenschrecke zum Angriff übergegangen, und noch bevor ihr der Bandit mit dem Messer den Kopf abtrennte, hatte sie ihm mit spitzem Stachel ihr Gift unter die Haut gespritzt.
Als Sungat den Kadaver mit den Füßen durch den verbliebenen Spalt in der sich schließenden Ladeklappe trat, pulsierte das höllische Elixier bereits wie kochendes Öl in seinen Adern, lähmte ihm den Atem und vernebelte ihm das Hirn. Das Letzte, was der Steppenhund ab dem Start in Kaspisk noch in Erinnerung hatte, war ein mit Gerümpel vollgestellter Winkel im Laderaum, wo er sich versteckte und inständig hoffte, dass sein Todfeind ihn nicht finden würde.
Als Sungat wieder bei Sinnen war, entdeckte er einen Zuber, den die Besatzung zum Abspülen benutzte, und daneben einen Kessel mit einem Rest Suppe, der in der Hektik offenbar vergessen worden war. Die kalte Fleischbrühe rettete den Steppenhund vor dem Hungertod und gab ihm Kraft für den Überlebenskampf.
Die wilde Verfolgungsjagd, die Krallen des Vogelmutanten und das lähmende Gift der Ameisenschrecke hatten seinen Körper bis aufs Letzte ausgezehrt.
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