Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Kopf.
»Angst vor dem Tod«, fuhr sie fort. »Ich habe davon gelesen. Sitting Bull kann nichts dafür, dass …«
»Er kann nichts dafür?«, unterbrach Taran, der den Stummel nicht aus den Augen ließ. »Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, als er sich aufgedrängt hat mitzukommen? Wäre er doch bei seinen Neandertalern geblieben! Was zur Hölle hat er auf dieser Odyssee verloren?«
»Ist dir klar, dass wir wegen dir ums Haar alle draufgegangen wären?!«, mischte sich Gennadi ein, der eine Zigarette zwischen seinen Fingern malträtierte.
Sitting Bull hatte aufgehört zu schluchzen. Er schob sich die zerzausten Locken aus dem Gesicht und atmete geräuschvoll durch. Das Blut, das von seiner Nasenspitze tropfte, hatte eine schnörkelige rote Spur auf den Boden gemalt. Als er zu sprechen begann, traten alle anderen Geräusche auf geradezu magische Weise in den Hintergrund – selbst das Zetern der Nager draußen und das unaufhörliche Dröhnen des Dieselmotors.
»Ich war nicht von Anfang an ein Stummel … und kann mich noch gut an meine Eltern erinnern. Wir hatten ein Haus in der Vorstadt. Ein schönes, großes Haus … Das weiß ich natürlich aus Erzählungen meiner Eltern. Ich selbst wurde schon in einem Bunker geboren, nachdem das alles passiert war … Dort haben wir auch lange gelebt …« Der Erzähler stockte kurz, als würden die Erinnerungen ihm physische Schmerzen bereiten. »Dann habe ich meine Eltern verloren. Zuerst ist mein Vater krank geworden. Meine Mutter hat mir nicht gesagt, was mit ihm war, und ich selbst hatte damals noch keine Ahnung, was radioaktive Strahlung anrichten kann. Den Tag, an dem Papa zum letzten Mal an die Oberfläche ging, werde ich nie vergessen. Mama hat lange geweint, und ich habe versucht, sie zu beruhigen. Ich habe ihr gesagt, dass Papa sicher bald mit etwas zu essen zurückkommt, so wie sonst auch … Ich hatte mir damals nicht vorstellen können, dass er unter absolut unerträglichen Schmerzen litt. Mein Vater war für immer gegangen … Er war gegangen, um zu sterben!« Die seelischen Qualen verzerrten Sitting Bulls Gesicht zu einer hässlichen Maske. »Meine Mutter war untröstlich. Sie hat tagelang nichts mehr gegessen … Erst später habe ich verstanden, dass das nicht nur wegen des Todes meines Vaters war … Meine Mutter ist verhungert … Sie hatte nichts mehr gegessen, damit die verbliebenen Vorräte länger für mich reichen.« Der junge Mann begann abermals zu zittern. Doch er nahm sich zusammen, und nach einigen quälend langen Minuten fuhr er mit brüchiger Stimme fort. »Nachdem sie gestorben war, bin ich noch eine Weile in dem Bunker geblieben … Das war die schlimmste Zeit meines Lebens … Stundenlang habe ich mit meiner toten Mutter gesprochen und gesehen, wie ihr Körper sich langsam … verändert … Es war furchtbar. Damals habe ich erst richtig begriffen, was es bedeutet, tot zu sein. Nicht mehr zu existieren, nichts mehr zu fühlen, nichts mehr zu denken … Als mir das klar wurde, war das ein totaler Schock für mich.«
Sitting Bull verstummte erneut. Diesmal für längere Zeit. Die anderen schwiegen teilnahmsvoll und warteten geduldig, bis er sich wieder gefasst hatte, um seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Sie wussten alle aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren. Die aus den Fugen geratene, kaputte Welt hatte für jeden einen Schicksalsschlag im Köcher gehabt – egal ob jung oder alt …
»Als der Gestank unerträglich geworden war, habe ich den Bunker verlassen … Ich hatte Glück. Irgendwie habe ich es bis zur Stadt geschafft und bin dort auf eine Siedlung Überlebender gestoßen. Heruntergekommene Gestalten mit zerrissenem Gewand und versoffenen Visagen – die reinsten Penner. Aber immerhin waren es lebendige Menschen. So bin ich zu den Stummeln gekommen.«
»Du bist mir immer noch eine Antwort schuldig«, sagte Taran – nicht mehr so zornig wie zuvor, aber immer noch eiskalt. »Warum – bist du – mit uns gekommen?«
Sitting Bull sah den Kommandeur verständnislos an, als hätte dieser eine völlig unsinnige Frage gestellt. Auf einmal kam wieder ein wenig Leben in seinen verlorenen Blick, aber nur für einen kurzen Moment. Dann saß wieder die nackte Angst in seinen anthrazitgrauen, schielenden Augen.
»Die Veganer werden alle und alles vernichten! Früher oder später werden die Truppen des Imperiums zum Museum vordringen. Das ist nur eine Frage der Zeit! Bei meinem Stamm zu
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