Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Straßenschild aus dem Schnee.
Gleb stutzte: Sind wir nicht schon vor ein paar Stunden an so einem Ding vorbeigekommen? Ist es womöglich dasselbe Schild, und wir sind nur im Kreis gefahren? Ich müsste mit einem der Erwachsenen darüber reden.
Glebs Gedanken flossen zäh wie Brei.
Aber wo ist der Unterschied? Ist es nicht in jedem Fall besser, auf dieser Straße zu bleiben, als noch einmal irgendwo in der Wildnis stecken zu bleiben?
Wie der Junge so über die bisherigen Wirrnisse dieser beschwerlichen Reise nachdachte, gelangte er zu der Überzeugung, dass es ein tödlicher Fehler wäre, die Trasse zu verlassen. Der Raketentransporter und seine Besatzung würden dann als Trophäe der allgegenwärtigen Finsternis enden – wie die Geisterdörfer, an denen sie vorbeigekommen waren.
Gleb betrachtete abermals das Straßenschild. Es war größtenteils vom Schnee zugeweht, doch unter einer durchsichtigen Eisschicht konnte man immerhin die Straßennummer erkennen: R-243 .
Da müssen wir mal in die Karte gucken, dachte der Junge, und nachschauen … wo die Straße hinführt … Aber lieber vorher noch ein Nickerchen machen …
Der Junge spürte noch, wie sein erschlaffter Körper aus dem Stahlsitz rutschte und von sorgsam ausgebreiteten Armen aufgefangen wurde. Er hörte, wie die Klappe über seinem Kopf quietschte und den eisigen Luftstrom der Taiga abschnitt. In der behaglichen Wärme der Mannschaftskajüte kapitulierte Gleb vor der bleischweren Müdigkeit, die ihn vollständig eingelullt hatte.
Der Schlaf war unruhig und brachte nicht die erhoffte Erleichterung. Gleb erwachte mit dem Gefühl, als wäre er durch einen endlosen schwarzen Abgrund gestürzt, der bis zum Rand mit einer stickigen, fast schon fühlbaren Finsternis gefüllt war. Er schlug die verklebten Augen auf und schwang die Beine von der Koje. Im Sitzen bekam er einen Hustenanfall und spuckte ekligen, gelben Schleim in seine Hand.
Was ist das für ein Zeug? … Bin ich krank? … Schnell den Heiden finden … Wo ist er bloß?
Während Gleb sich im Gang vorantastete, stolperte er über andere Besatzungsmitglieder, die kreuz und quer auf dem Boden lagen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er die Kajüte durchquert hatte. Den Arzt fand er nirgends.
Im hintersten Winkel kauerte – abenteuerlich verrenkt – Migalytsch. Der alte Mann lag auf der Seite und sah den Jungen aus trüben, ausdruckslosen Augen an. Aus seinem Mundwinkel rann zäher gelblicher Speichel auf die Bodenplatte.
Erst jetzt fiel dem Jungen auf, dass der Raketentruck nicht stand, sondern fuhr. An die Wände gestützt, hangelte er sich zur Kabine vor. Anstelle des Mechanikers saß Taran am Steuer.
Als er den keuchenden Atem in seinem Rücken bemerkte, wandte der Stalker sich um. Schwarze Augenringe, Schweißtropfen auf dem ausgezehrten, grau gewordenen Gesicht … Der Junge schreckte zurück, als hätte er einen Toten gesehen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Ihm fehlte die Kraft, um wieder aufzustehen.
Als er für einen Augenblick die Augen schloss, spürte er zu seinem Entsetzen, dass er abermals im Strudel der Ohnmacht versank, und ihn beschlichen ernste Zweifel, ob er jemals wieder erwachen würde.
»Schön trinken! So ist’s gut. Noch ein Schlückchen … Langsam, langsam! Nicht so hastig …«
Gleb hustete sich die Seele aus dem Leib. Sein Magen-Darm-Trakt brannte, als hätte man ihm Chilisoße eingeflößt, und seine Augen schmerzten, dass ihm die Tränen kamen.
»Was … Wozu soll das gut sein? … Was für eine grässliche Medizin.«
»Komm schon, Junge, noch ein paar Schlückchen. Das hilft.«
Der Heide hielt dem Patienten den sattsam bekannten Emaillebecher an die Lippen. Darin befand sich eine klare, stechend riechende Flüssigkeit.
Gleb sah alles verschwommen und doppelt, und das Teufelchen auf dem Becher hüpfte wie ein Irrwisch vor seiner Nase hin und her. Dem Jungen dröhnte der Kopf. Nachdem er noch einmal an der scheußlichen Mixtur genippt hatte, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen.
»Das ist doch Alkohol«, entrüstete er sich und wehrte den Arm des Arztes ab.
»Du hast’s erfasst!«, erwiderte der Heide vergnügt und drückte dem renitenten Patienten abermals den Becher an den Mund. »Echter medizinischer Alkohol. Aus meinem privaten Notvorrat. Du brauchst gar nicht die Nase zu rümpfen, ich habe ihn mit Wasser verdünnt. Schön trinken! Du wirst sehen, danach geht’s dir besser.«
Samuil Natanowitsch zwinkerte
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