Hinter dem Mond
Schuhe. Ich warf meine Tasche und meine Kickers in mein Zimmer und folgte ihr.
»Lasst ihr euch nicht scheiden?«, fragte ich angekotzt. »Warum denn nicht?«
»Lilly, du wirst mir eines Tages sehr dankbar sein, dass ich es wegen dir mit deinem Vater aushalte. Du hast ja keine Ahnung, was dir erspart bleibt, weil ich nicht so egoistisch bin wie andere Mütter! Ich habe das durchgemacht und ich sage dir, du solltest mir die Füße küssen …«
»Ja, dann … wenn ihr euch nicht scheiden lasst, kann ich bitte trotzdem in ein Internat? Nach Deutschland?«
Am Ende der nächsten Woche hatten wieder so viele Demonstrationen auf den Straßen stattgefunden und wütende Schah-Hasser gegen das Militär gekämpft, das Militär hatte auf Menschen geschossen und viele Menschen verletzt und auch einige getötet, dass unsere Klassenlehrerin anrief, um zu sagen, dass wir in der kommenden Woche schulfrei hätten. Die Deutsche Schule hatte eine Riesenangst vor Entführungen. In unseren auffällig gelben Bussen waren wir ja vom rachsüchtigen Mob als Beute auszumachen und leicht entführbar. Man musste nur dem Busfahrer und dem Beifahrer schnell eins auf die Nuss geben, mit uns in die Salzwüste fahren, den Bus dort einfach abstellen und verschwinden. Niemand würde uns finden, und wir würden dort einfach verdursten. Weit und breit wäre keine Telefonzelle, um Hilfe zu rufen, und die Polizei hatte im Moment andere Probleme, als ein paar deutsche Gören in der riesigen Wüste Lut mit dem Hubschrauber zu suchen. So etwas wäre genau richtig, um die Oberschicht mit ihrem verdorbenen Nachwuchs einzuschüchtern. Und den Irren, die so verrückt waren, einen Mullah als Ersatz für den Schah herbeizuschreien, durchaus zuzutrauen. Für diese Verrückten gehörten sowieso alle Ausländer zum Feind, der mit dem Schah unter einer Decke steckte und mit seiner Unterstützung unmoralisches Gedankengut ins Land brachte, um die islamische Ideologie zu verderben.
Aus der einen Woche wurden dann, weil sich die Demonstranten nicht zurückzogen, sondern immer frecher aus dem Süden der Stadt Richtung Norden kämpften, zwei Wochen.
Ich langweilte mich zu Hause entsetzlich, weil ich natürlich nicht mehr raus und auch niemanden besuchen durfte, weil jetzt überall und jederzeit aufgebrachte Menschenmassen auftauchen konnten. Alle Eltern wollten ihre Kinder bei sich haben.
Mein Vater ging zwar weiter ganz normal in seine Praxis, kam aber abends mit Einbruch der Dunkelheit nach Hause und fuhr auch nicht mehr wie sonst mit dem großen Volvo, sondern mit dem kleinen Renault meiner Mutter. Er hatte Angst, dass ihn Räuber nachts im Dunkeln auf der Landstraße in dem dicken Wagen anhalten und ihm die Kehle durchschneiden würden. Das war anscheinend schon mehrmals vorgekommen.
Anfang Dezember war einer der höchsten Feiertage in Persien, Aschura , der Tag, an dem die Schiiten den Märtyrertod von Imam Hossein beklagen. An Aschura zogen jedes Jahr Tausende von Menschen schwarz gekleidet durch die Straßen, Männer und Frauen getrennt. Die Frauen trugen schwarze Tschadors und weinten und klagten laut. Die Straßenzüge der Männer waren noch dramatischer. Sie schlugen sich mit Ketten und Peitschen den nackten Oberkörper blutig und weinten und schrien dazu. Mein Vater war mit mir einmal in den Süden gefahren, wo sich die Züge versammelten, und ich konnte damals gar nicht glauben, was ich sah. Die blutig aufgerissenen Oberkörper, auf die die Ketten immer wieder niederpeitschten. Sie peitschten sich selbst aus, nur weil der Imam getötet worden war, und es waren endlos viele junge Männer. Unglaublich. Wo kamen die bloß alle her und was machten die sonst im Leben? Ich kannte niemanden, der so etwas tat. Außer mir hatte das auch noch niemand gesehen. Als ich in der Schule erzählte, wie crazy die waren, waren alle schockiert, dass meine Eltern mir so etwas gezeigt hatten.
An diesem Aschura waren viel mehr Leute auf den Straßen als sonst. Und sie schrien auch nicht nur:
»Waaai Hossein koschte schod …« (Waai, Hossein wurde getötet), sondern: »Marg bar Schah« (Tod dem Schah) und »Sende Bad Chomeini« (Lang lebe Chomeini).
Mein Vater sagte, wir könnten es uns aus der Nähe ansehen.
Wir fuhren zu dritt zum Meydane Schayad (Platz der Märtyrer), parkten dort den Renault meiner Mutter und liefen in die Richtung, aus der das Geschrei kam. Durch die breite Schah Reza Avenue schob sich eine endlose Menschenmenge. Die Frauen waren natürlich alle in
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