Hinter dem Mond
behandelt werden müsste.
Aber sein Platz blieb die nächsten Tage immer noch leer.
Bis Ende der Woche unsere Klassenlehrerin zu uns sagte: »Armin kommt nicht mehr. Er ist mit seiner Familie zurück nach Deutschland gegangen.«
Ich konnte es nicht glauben. Mitten im Schuljahr. Deshalb hatte seine Mutter so starr am Lehrerzimmer gestanden, weil sie den Lehren sagen musste, was sie vorhatten, und seine Papiere abholen wollte.
Ein entsetzlicher, noch nie zuvor dagewesener Schmerz erfüllte mich und ließ mich die nächsten Wochen nicht mehr los. Er war einfach weggegangen. Warum hatte er mir nichts gesagt? Warum waren die plötzlich weg? Was passierte mit ihrem Haus, mit Armins Zimmer und seinen Sachen?
Niemand konnte meine Fragen beantworten. Meine Mutter wusste auch keine befriedigende Antwort.
»Wahrscheinlich hatte sein Vater Angst, dass es ihm an den Kragen geht, wenn die sich nicht langsam beruhigen. Aber die werden wieder zurückkommen, sobald der Wahnsinn hier aufhört.«
Aber der Wahnsinn hörte nicht auf. Der Wahnsinn wurde immer schlimmer.
Und mitten in den Weihnachtsferien, kurz vor dem Jahreswechsel 1978/1979, kam die entsetzliche Nachricht, unsere Schule würde wegen der gefährlichen innenpolitischen Situation mindestens bis zum Ende des Schuljahres geschlossen bleiben.
6
G erade, als meine Eltern beschlossen hatten, dass ich am 2. Januar mit Pouri und ihren Kindern nach Deutschland fliegen und das Schuljahr in Köln beenden sollte, kam die Nachricht, die Schule würde eine Art Notunterricht organisieren. Meine Eltern hatten aber zum Glück Angst, der Notunterricht wäre nur Quatsch und ich würde dadurch noch ein Jahr verlieren. Dann, als sie mir mein Lufthansa-Ticket nach Frankfurt gekauft hatten, hieß es, unsere Lehrer würden die Schüler, die dageblieben waren, privat und heimlich unterrichten, und alle würden dieses Jahr versetzt werden, auch die allerdümmsten so wie ich. Wer sein Haus für den Unterricht zur Verfügung stellen wollte, sollte sich in der Schule melden.
Und als ich endlich dabei war, vergnügt eine lange Liste zu schreiben, was ich mir alles sofort in Deutschland kaufen wollte, sagte meine Mutter:
»Tut mir leid, meine Liebe, aber Pouri bleibt jetzt auch hier … kannst wieder auspacken …«
»Warum bleibt sie hier? Neeeeeiinn …« Ich warf mich auf mein Bett und wollte sofort sterben. Warum ging einfach alles schief? Wenn meine Eltern schon so weit waren, mich wegzuschicken, warum musste dann die blöde Schule mit dem Notunterricht ankommen und nerven und alles kaputt machen? Warum kam in meinem Leben immer einer an, sobald es schön wurde, und machte alles kaputt? Wenn es nicht meine Familie oder das blöde Land waren, war es die scheiß Schule. Ich wusste nicht, wen ich am meisten hassen sollte: meine Eltern, Pouri, das Land, die Schule oder mich selbst.
Nur, weil Pouri keine Lust hatte, Klaus alleine hier zu lassen und mit uns Kindern nach Köln zu gehen, musste ich hierbleiben und den verdammten Notunterricht mitmachen.
Aber so schlimm wurde es dann gar nicht.
Alle Eltern wollten natürlich besonders hilfsbereit sein und stellten gerne ihreVillen für den Notunterricht zurVerfügung. So wurden die Notschüler jeden Tag von ihren Müttern in eine andere Riesenvilla gebracht, nur mich brachte der Fahrer, weil meine Mutter keine Lust hatte, Chauffeur zu spielen.
Die anderen Mütter servierten uns während des »Unterrichts« Kuchen, Kekse, Obst und Getränke. Es war außerdem lustig, unsere Lehrer in diesem ungewohnten Ambiente zu sehen, den langen Esstischen in pompösen Salons mit Spiegeln und Lüstern, wie sie ganz ernst über Gleichungen, die man nach X auflösen sollte, oder über die Staufer redeten. Als ob das noch jemanden interessierte, mitten in der Revolution. Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich gar nicht, was unterrichtet wurde, denn ich hörte natürlich überhaupt nicht zu, sie hatten ja versprochen, dass jeder versetzt wurde. Damit war die Sache geritzt.
Unser Fahrer brachte mich also jeden Tag zu einem anderen Schüler in den Norden der Stadt. Und holte mich am späten Nachmittag wieder ab, weil wir nach dem Unterricht noch lange herumblödelten. Manche Villen waren so weit nördlich, dass dort auf den Straßen sogar etwas Schnee lag, obwohl es ansonsten in Teheran noch kein Mal geschneit hatte, seit ich da war. Alle siebten Klassen waren zusammengelegt worden, wir waren nicht besonders viele, die meisten waren vor Schreck abgehauen, und
Weitere Kostenlose Bücher