Hinter der Nacht (German Edition)
gewesen. Aber das konnte ich wohl vergessen.
„Hi, Jennifer”,
erwiderte ich verlegen.
„Jenny“,
korrigierte sie. Sie sah aus, als ob sie noch etwas hinzufügen wollte,
unterließ es dann aber. Stattdessen drehte sie sich um. „Okay, dann lass uns
mal gehen. Die Lehrer warten nicht gerne.“ Ohne weitere Umstände marschierte
sie los, und ich stolperte eilig hinterher. Mein erster Schultag in Inverness
hatte begonnen.
Die ersten zwei
Stunden, Mathe und Englisch, verbrachte ich an Jennys Seite, und sie war so
gnädig, mich in beiden Fächern neben sich sitzen zu lassen, wenn sie dabei auch
nicht sonderlich begeistert wirkte. In der dritten und vierten Stunde musste
ich dagegen allein klarkommen. Ein paar Gesichter in dem Klassenraum, den ich
betrat, wendeten sich mir neugierig zu, aber danach ließ man mich in Ruhe.
Langsam lockerten sich meine angespannten Nerven ein wenig.
Die Mittagspause
war eine ganz neue Erfahrung für mich. Hunderte von gleich gewandeten Jungen
und Mädchen von 12 bis 18 bevölkerten die riesige Kantine und scharten sich um
die Tische. Es herrschte ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr und Geklapper mit
Tellern und Besteck. Ich hielt nach Mike Ausschau, konnte ihn aber nirgends
entdecken. Stattdessen erspähte ich in der Reihe vor der Essensausgabe Jenny.
Nach kurzem
Zögern gesellte ich mich zu ihr. „Hi.“ Sie drehte überrascht den Kopf, dann
sagte sie ohne große Begeisterung: „Oh, hallo.“ Mangels Alternativen blieb ich
trotzdem bei ihr stehen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Jenny beachtete
mich nicht weiter.
Nachdem ich mir
dasselbe bestellt hatte wie sie (ohne eine Ahnung zu haben, was es war, denn es
sah sowieso alles gleich grau-braun-matschig aus), folgte ich ihr
unaufgefordert zu einem Tisch, an dem schon mehrere Mädchen und Jungen saßen.
Einige von ihnen hatte ich in meinen Kursen bereits gesehen. Sie begrüßten
Jenny freundschaftlich und musterten mich argwöhnisch. Plötzlich hätte ich mich
am liebsten allein in eine dunkle Ecke gesetzt. Aber dafür war es nun wohl zu
spät. Nachdem einige etwas widerwillig zusammengerückt waren, ließen wir uns
zwischen ihnen nieder. Dann probierte ich vorsichtig das Grau-Braune
(offensichtlich Fisch) und das Matschige (offensichtlich Pommes), das auf
meinem Teller lag. Zu meiner Überraschung war es gar nicht mal so übel. Erst
jetzt merkte ich, wie hungrig ich war, nachdem ich beim Frühstück heute morgen
vor lauter Aufregung gar nichts herunterbekommen hatte.
Bei meinem
Geschmacksexperiment entging mir zunächst ganz, wie Jenny auf einmal ihre
Nachbarin zur Linken anstieß und nun hektisch mit ihr tuschelte. Dabei blickten
sie verstohlen, aber unverkennbar auf einen Punkt irgendwo schräg hinter mir.
Neugierig drehte ich mich um. Dort, ein paar Meter von unserem Tisch entfernt,
hatte gerade eine Gruppe älterer Jungen die Kantine betreten und steuerte jetzt
auf die Essensausgabe zu. Sofort wurde ich wieder nervös. Mike!
In diesem Moment
blickte er zufällig in meine Richtung. Als er mich sah, blitzte zu meinem nicht
geringen Schock ein Lächeln auf seinem Gesicht auf, und ohne zu zögern steuerte
er auf unseren Tisch zu. Ich wurde vor Schreck fast ohnmächtig.
„Clarissa! Na,
wie war dein erster Schultag bisher?“
Ich erholte mich
nur mühsam von diesem neuen, unbekannten Mike. Wo war sein üblicher genervter
Tonfall geblieben? So, wie er hier vor mir stand und mich anstrahlte, mit
seinem einfach umwerfend attraktiven Lächeln, könnte man fast den Eindruck
bekommen, dass er mich mochte! Das war mehr, als ich in meinem angespannten
Zustand so einfach verkraften konnte. „Äh… ähm… - weiß nicht“, brachte ich
schließlich mühsam heraus. „Jenny… hat mir alles gezeigt.“ Ich deutete auf
meine Nachbarin. Erst jetzt fiel mir auf, dass alles Getuschel um uns herum
verstummt war und sie seltsam erstarrt da saß. Bei der Nennung ihres Namens
leuchtete sie aber unvermittelt wie eine Hundert-Watt-Birne auf.
Mike lächelte
sie genau so herzlich an wie mich zuvor. „Hi Jenny. Freut mich, dich
kennenzulernen. Ich bin Mike.“
Begeistert
erwiderte Jenny sein Lächeln. „Hi, Mike“, sprudelte sie hervor. „Freut mich
auch, dich kennenzulernen.“
Mike wendete
sich wieder an mich. „Wie ich sehe, habt ihr schon was zu essen. Ich geh mir
dann auch mal was holen. See you later, girls!“ Er winkte uns noch mal
kurz zu, dann ging er zurück zu seinen Freunden in der Essensschlange.
Meine
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