Hinter der Nacht (German Edition)
Nachbarin
sank ermattet auf ihren Stuhl zurück und zischte mir erregt zu: „Wow! Du kennst Mike Low ?“
„Ja“, entgegnete
ich, verdutzt über ihre heftige Reaktion. „Ich wohne bei ihm. Er ist mein
Gastbruder.“
Jenny sah mich
mit einem vollkommen neuen Ausdruck an. Eine Mischung aus Unglauben,
Bewunderung und purem Neid. Als hätte ich gerade zugegeben, in Wahrheit bei den
Royals persönlich zu Gast zu sein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Mann,
du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Mike Low. Ich fass’ es nicht. Du
musst ein echtes Glückskind sein!“
Tja, auch wenn
ich das im Allgemeinen nicht ganz so sah, hatte ich doch in diesem Augenblick
das erste Mal das Gefühl, als könnte vielleicht ein ganz kleines Fünkchen
Wahrheit daran sein.
Der Rest des
Montags und der Dienstagvormittag verliefen ereignislos, mal davon abgesehen,
dass Jenny mich ausführlichst über Mike ausquetschte und ich weitere Lehrer und
Mitschüler kennenlernte, von denen aber keiner einen bleibenden Eindruck
hinterließ. Allerdings blickte ich mich jedes Mal, wenn ich einen neuen
Klassenraum betrat, zuerst vorsichtig um, um sicherzugehen, dass nicht irgendwo
der dunkle Motorradfahrer lauerte. Und jedes Mal atmete ich erleichtert auf,
wenn ich kein paar pechschwarze Augen auf mich gerichtet sah.
Zum Mittagessen
traf ich mich wieder mit Jenny und ihren Freundinnen, die zwar nicht besonders
enthusiastisch wirkten, als sie mich zu Gesicht bekamen, mich aber immerhin bei
sich sitzen ließen. Zum Glück tauchte Mike diesmal erst auf, als wir gerade
fertig waren, und so blieb mir das peinliche Getuschel meiner Tischnachbarinnen
größtenteils erspart. Jenny begleitete mich auch zu den Spinden in der
Eingangshalle zurück, wo wir unsere Sportsachen verstaut hatten, und zeigte mir
dann den Weg zu den Sporthallen. Ich war gespannt auf den Unterricht. Sport war
immer eins meiner Lieblingsfächer gewesen, weil ich aufgrund des jahrelangen
Karatetrainings dort kaum Probleme hatte.
In der
Umkleidekabine trafen wir auf die anderen Mädchen unseres Kurses. Gerade mal
eine Handvoll.
„Sind wir so
wenige?“, fragte ich Jenny.
Sie folgte
meinem Blick. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, bestimmt nicht. Meistens
sind wir so um die zwanzig. Aber die Jungs ziehen sich natürlich woanders um.“
„Jungs? Haben
wir etwa zusammen Sport?“
„Klar“,
entgegnete sie. „Hast du ein Problem damit?“ Es klang fast hoffnungsvoll.
Rasch schüttelte
ich den Kopf. „Nein, nein. Ich dachte nur… Klappt das denn? Bei uns wollen die
Jungs nämlich immer nur Fußball spielen.“
Sie lachte.
„Hier bevorzugen sie Rugby.“ Auf meinen entsetzten Blick fügte sie herablassend
hinzu: „Keine Angst, Rugby spielen wir kaum. Der Coach glaubt nämlich nicht,
dass das ein Spiel für Mädchen ist. Aber es gibt ja auch noch viele andere
schöne Spiele.“
Oje. ‚Schöne
Spiele’, das war für mich ein Widerspruch in sich. Hoffentlich hatte Jenny
nicht Ballspiele gemeint. Wie gesagt, ich mochte Sport. Nur mit Ballspielen
hatte ich so meine Probleme. Innerlich dankte ich dem unbekannten Sportlehrer
auf Knien dafür, dass er von Emanzipation im Sport scheinbar gar nichts hielt.
Ich konnte ihm da, zumindest im Hinblick auf brutale Ballsportarten, nur zustimmen.
Leicht beklommen folgte ich Jenny in die große Turnhalle.
Schon vor der
Tür empfing uns die übliche Geräuschkulisse: Stimmenwirrwarr, Lachen, das
Quietschen von Turnschuhen auf dem Hallenboden – und das dumpfe Ploppen, das
entsteht, wenn Bälle gegen Wände geworfen werden und wieder davon abprallen.
Mir schwante Übles. Misstrauisch schob ich mich durch die Tür.
Während die
wenigen Mädchen in einer Ecke zusammenstanden und sich unterhielten, rannte
eine größere Gruppe Jungen mit Basketbällen in den Händen kreuz und quer durch
die Halle. Sie zogen eine ziemliche Show ab. Die Bälle wurden hin- und
hergepasst und -gedribbelt und ständig wurde auf die Körbe geworfen, wobei eine
in meinen Augen frustrierende Anzahl Bälle auch traf. Besonders einer, ein Junge
mit kurzen dunklen Haaren, der sich ganz am anderen Ende der Halle befand und
dort einsam seine Runden drehte, zog sofort meine Augen auf sich. Er war nicht
allzu groß, schien aber sehnig und muskulös zu sein und sah extrem
durchtrainiert aus. Selbst aus der Ferne konnte man erkennen, dass alles an ihm
Kraft und Anmut war. So stellte ich mir den Körper eines perfekten Kämpfers
vor.
Mein Gegaffe
wurde
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