Hinter der Nacht (German Edition)
Meerblaue Augen blickten mich liebevoll und doch
unendlich traurig aus einem von goldenen Locken umrahmten Gesicht an. Und da
wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Ich war auf der anderen Seite
angelangt. Bald würde ich ihn wiedersehen.
Plötzlich
durchbrach mein Kopf die Wasseroberfläche, und schlagartig verschwand alles
Sanfte, Beschützende. Stattdessen spürte ich auf einmal jeden einzelnen Nerv in
meinem Körper, als kalte Luft schmerzhaft in meine Lungen strömte - und alle
schrien um Hilfe. Ich wollte mitschreien, aber mehr als ein Krächzen kam nicht
aus meiner Kehle. Ich fühlte mich so elend wie noch nie. Mit jeder Faser meines
Herzens wollte ich wieder in die weiche Unterwasserwelt zurückkehren, aber
irgendetwas hielt mich davon ab und sorgte dafür, dass ich oben blieb. Es war
wie ein zarter und gleichzeitig unnachgiebiger Widerstand, der mich von unten
aus dem Wasser drückte. Ich hustete und strampelte mit aller Kraft, doch der
Widerstand war stärker.
Und dann hörte
ich Stimmen. Hände packten mich und zogen mich aus dem Wasser. Nicht die
sanften, beschützenden des Engels, sondern raue, schwielige. Auch die Stimmen
waren laut und dröhnten in meinen Ohren. Und dann lag ich auf einem harten,
nassen Untergrund und merkte, wie mich eine Welle von Schmerzen überwältigte.
Alles tat weh, selbst das Luftholen. Die Hände rissen und drückten an mir
herum, und ich wollte nur, dass sie aufhörten, aber ich fand meine Stimme
nicht. Als ein schwarzer Schleier über mich sank, hieß ich ihn dankbar
willkommen.
Als ich wieder
zu mir kam, war von der Nässe, der Kälte und den Schmerzen nichts mehr zu
spüren. Ich fühlte mich taub. Ich versuchte, mich zu erinnern, aber da war
nichts. Mein Kopf war wie leergefegt. Kurz kam mir der Gedanke, dass ich
aufwachen sollte, dass es etwas Wichtiges zu erledigen gab – aber dann versank
ich wieder in bleiernen Schlaf.
Im Laufe der nächsten
Stunden (Tage? Minuten?) driftete ich in und aus meiner Bewusstlosigkeit. Doch
nach und nach schienen meine Sinne wieder zu erwachen, denn ich nahm mehr von
meiner Umgebung wahr. Ein monotones Piepen, leise, aber aufdringlich. Huschen
und Flüstern. Ab und zu ein Luftzug, als ob jemand an mir vorbeigegangen war.
Und schließlich das deutliche Gefühl, nicht allein zu sein.
Diesmal gelang
es mir, die Augen zu öffnen.
„Clarissa!
Schätzchen! Oh mein Gott, ich bin so froh, dass du wieder da bist! Was ist dir
nur zugestoßen?“
Ich starrte
völlig verständnislos in das vertraute Gesicht, das sich mit einem hysterischen
Ausdruck über mich beugte und das mir aus irgendeinem Grund, der mir nicht
einfiel, völlig fehl am Platz vorkam.
„Amanda! Ma! Was
ist los? Was machst du hier?“
Meine eigene
Stimme kam mir ebenfalls fremd vor, irgendwie falsch. Sie klang heiser und
tonlos, und während ich sprach, erwachte ein reibender Schmerz in meinem Hals.
Meine Mutter
griff nach meiner Hand. Ich folgte ihr mit meinem Blick, was ziemlich
anstrengend war, und sah, dass meine Hand schlapp auf einer weißen Bettdecke
lag. Ein durchsichtiger Schlauch steckte in ihr. Auch meine sonstige Umgebung
wirkte farblos. Weiß, wohin ich blickte.
„Keine Angst,
dir kann nichts passieren! Du bist in Sicherheit!“
Ich versuchte,
mich auf die Worte zu konzentrieren, aber sie machten keinen Sinn. Wieso
Sicherheit? Was sollte mir denn passieren? War mir etwas passiert? Ich
durchsuchte meinen Kopf nach einem Hinweis, aber da war nichts. Nur ein dumpfer
Schmerz, der jetzt rasant zunahm.
Meine Augen
fielen wieder zu, und die Dunkelheit tat mir gut, während meine Mutter weiter
brabbelte, ihre Stimme schwankend vor Emotionen. „Als ich erfuhr, dass du
vermisst wurdest, bin ich sofort hierher geflogen, aber du warst einfach nicht
zu finden! Ich habe schon gedacht…“ Sie brach ab, und ich glaubte, einen
Schluchzer zu hören, aber ich schaffte es nicht, die Augen wieder zu öffnen.
„Ich war völlig verzweifelt, am Ende, das kannst du mir glauben! Die Polizei
hat alles versucht, aber es gab keinen Hinweis, wer…“ Ein weiterer,
deutlicherer Schluchzer. Es dauerte eine Weile, dann fing sie sich wieder. „Ich
musste wieder nach Deutschland zurück… Und dann, heute morgen, dieser Anruf!
Ich konnte es kaum glauben! Oh, Clarissa, Mäuschen, das waren die schlimmsten
Wochen meines Lebens!“
Ihre Worte
prasselten auf mich ein, aber sie erreichten mich nicht. Ich hatte keine
Ahnung, wovon sie sprach. Ich blendete alle Geräusche um mich
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