Hinter der Nacht (German Edition)
ab. Wir rasen durch halb Schottland – ein paar Stunden
vielleicht? Was ja auch etwa der Strecke von Inverness, wo sie mich gepackt
hatten, bis Aberdeen, wo man mich gefunden hatte, entsprach. Sie halten an,
laden mich aus, schleppen mich zu den Klippen und warten. Auch höchstens ein
bis zwei Stunden. Ich kann mich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein oder
ähnliches, und es blieb die ganze Zeit dunkel. Dann – er kommt. (Ich vermied
neuerdings seinen Namen, um den Schmerz in Schach zu halten.) Sie kämpfen. Ich
werde über die Klippen geworfen. Alles in allem maximal eine Nacht. Da war ich
mir hundertprozentig sicher. Bis auf diese eine, unverständliche, un mögliche Tatsache: dass alle anderen behaupteten, das sei über ein Monat gewesen.
„Vielleicht hab
ich ja mein Gedächtnis verloren oder so. Wenn man etwas Schreckliches erlebt,
soll das ja vorkommen. Aber irgendwie glaube ich das einfach nicht. Dann würde
ich mich doch wahrscheinlich auch an all das andere Schreckliche nicht
erinnern, oder?“ Ich sah Mike hilflos an, und er blickte genauso ratlos zurück.
„Es mussnoch eine andere Erklärung geben. Es muss einfach!“
„Vielleicht gibt
es die ja auch.“ Ich zuckte zusammen, als plötzlich Raphaels Stimme vom
Esszimmer her ertönte. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er dort den Tisch
deckte. Jetzt setzte er die Teller, die er in der Hand gehalten hatte,
bedächtig auf dem Tisch ab und kam zögernd näher. Raphael klang müde, und
jetzt, im Schein der Wohnzimmerlampe, fiel mir auf, dass er dunkle Schatten
unter den Augen hatte. Offensichtlich war ich nicht die einzige, die in letzter
Zeit schlecht schlief.
„Wie meinst du
das?“, fragte Mike erstaunt.
„Ich meine,
vielleicht ist es ja durchaus möglich, dass Clarissa Recht hat.“
„Und ihre ganze
Entführung nur ein paar Stunden gedauert hat?“ Mikes Stimme spiegelte die
Skepsis, die sich auch in mir breitmachte, obwohl Raphael doch genau das
aussprach, was ich gern denken wollte. Nur, dass es eben unmöglich war. Wenn
man es mit gesundem Menschenverstand betrachtete. Aber vielleicht war ich ja
verrückt? Dass Raphael nicht ganz dicht war, zeigten ja schon seine Bücher.
Kein Wunder, dass er nur zu bereit war, meiner Erzählung Glauben zu schenken.
Hatte er mich inzwischen mit seinem persönlichen Irrsinn angesteckt?
„Für sie ,
ja – vielleicht.“ Raphael ließ sich in einem der Sessel nieder und stützte sein
Kinn in die Hände. Das Abendessen schien er vergessen zu haben.
Mike schüttelte
den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Wie soll das denn gehen?“
Raphael blickte
ihn ernst an. „Nun, es gibt Geschichten…“, begann er, verstummte dann aber
wieder. Seine kurz lebhafte Stimme klang wieder müde und deprimiert. Doch dann
beugte er sich erneut vor. „Zugegeben, das sind nur Geschichten. Aber - ich
habe mal was Ähnliches erlebt.“
Mike schaute ihn
misstrauisch an. „Ach. Und wann soll das gewesen sein?“
Ich sah, wie
Raphael zögerte, so, als überlegte er, ob er es wirklich sagen sollte. Dann
jedoch richtete er seinen Blick fest auf Mike und antwortete: „Als ich deine
Mutter kennengelernt habe. Claire.“
Der Name hing
unbeweglich zwischen uns in der Luft. Mike schien genauso überrascht zu sein
wie ich. Oder geschockt, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete. Ich
wusste von ihm, dass Raphael eigentlich nie von ihr sprach, der Frau, die er
nur kurz gekannt hatte und die dann gestorben war. Dass er sie ausgerechnet
jetzt erwähnte, rief in mir Erinnerungen wach an die Zeit, als ich versucht
hatte, mehr über sie herauszufinden, weil ich vermutete, dass mir das helfen
könnte, mehr über die Person zu erfahren, der mein eigentliches Interesse galt.
Arik. Und welche geheimnisvolle Verbindung es zwischen ihm und Raphael gab. Auf
einmal war ich wie elektrisiert.
Raphael seufzte
vernehmlich. Dann straffte er die Schultern. „Ich glaube, ich muss euch was
erklären.“ Er räusperte sich und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
Doch als er weiter sprach, schaute er ausschließlich seinen Sohn an.
„Ich habe sie
kennengelernt, als ich etwa in eurem Alter war. Vielleicht ein, zwei Jahre
älter. Damals wohnte ich noch in Glasgow. Du weißt ja, ich habe Englisch
studiert.“
Mike nickte und
wandte seinen Blick nicht von Raphaels Lippen.
„Mein
Lieblingsfach war Kreatives Schreiben. Für eine Semesterarbeit sollten wir eine
Kurzgeschichte zum Thema Einsamkeit verfassen. Aber mir fiel dazu
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