Hinter der Nacht (German Edition)
komm doch
wenigstens erstmal mit nach Hause! Bis zum nächsten Jahr! Oder willst du etwa
auch die Feiertage in der Fremde verbringen?“, versuchte sie es mit einem
letzten Lockmittel.
Mein Gesicht
fühlte sich wie ein einziges Fragezeichen an. „Welche Feiertage?“
Amanda blickte
zur Zimmerdecke, als wolle sie um himmlischen Beistand bitten. „Kind! In drei
Tagen ist Weihnachten! Hast du das wirklich nicht mitgekriegt?“
Mühsam versuchte
ich, Haltung zu wahren. Wenn Amanda mitbekäme, wie sehr mich ihre Eröffnung aus
dem Gleichgewicht brachte, würde sie mich niemals mit Mike gehen lassen. „Doch,
natürlich. Aber weißt du, mir ist dieses Jahr wirklich nicht nach Feiern
zumute. Ich glaube, das könnte ich einfach noch nicht.“ Ich musste mir keine
Mühe geben, die Tränen kamen von ganz allein.
Sofort stürzte
Amanda sich auf mich und riss mich von Mike fort an ihren mütterlichen Busen.
„Schon gut, Kind, schon gut! Wie gedankenlos von mir! Also, wenn du wirklich
meinst, dass es für dich das Beste ist…“ Sie sah mich fragend an, und ich
nickte unter Tränen.
„Keine Angst,
Mrs Choe“, warf Mike ein, gerade im passenden Augenblick und mit seinem
treuherzigsten Lächeln, „mein Vater und ich werden uns wirklich gut um Ihre
Tochter kümmern. Und Sie können sie natürlich jederzeit anrufen oder
vorbeikommen. Sie sind uns immer herzlich willkommen!“
Innerlich zuckte
ich zusammen, nicht nur wegen des falschen Nachnamens. Nicht auszudenken, wenn
meine Mutter diese Einladung wörtlich nahm! Zum Glück glaubte ich mich fest
darauf verlassen zu können, dass Philipp da auch noch ein Wörtchen mitzureden
hätte, und wenn sie erst einmal in seine starken Arme zurückgekehrt wäre, würde
er sicherlich alles tun, damit sie diese nicht so bald wieder verließe. Zum
ersten Mal war ich fast dankbar für seine besitzergreifende Art.
Amanda half mir
noch, alle Entlassungsformalitäten zu erledigen, und begleitete Mike und mich
dann aus dem Krankenhaus hinaus zum Parkplatz. Der Abschied fiel kurz, aber
tränenreich aus. Nur, dass es diesmal meine Mutter war, die weinte. Aber
nachdem ich ihr noch einmal versichert hatte, dass ich bei Mike und Raphael
wirklich am besten aufgehoben war, ließ sie mich ziehen. Bald war sie im
Rückspiegel verschwunden, und ich war mit Mike allein.
Claire
Clarissa
„Weißt du, was
mir wirklich nicht in den Kopf will?“
Mike schüttelte
den Kopf. Es war einige Stunden später, und wir saßen nebeneinander auf dem
alten Sofa im Low’schen Wohnzimmer. Raphael hatte mich wie eine verlorene
Tochter begrüßt, uns dann aber allein gelassen unter dem Vorwand, sich um ein
ordentliches Abendessen kümmern zu müssen, „um dich wieder aufzupäppeln,
Clarissa. Du bist ja nur noch Haut und Knochen!“ Ein rascher, eher zufälliger
Blick in den Spiegel im Flur bestätigte seine Diagnose, und ich war selbst
erschrocken beim Anblick meiner bleichen Haut und der lose um mich
herumschlotternden Klamotten. Lange dachte ich allerdings nicht darüber nach.
Andere Dinge beschäftigten mich weitaus dringlicher.
„Ich kapier’
einfach nicht, wo diese Wochen geblieben sind! Ich meine, dass ich zwei Wochen
im Krankenhaus war, kann ich ja nachvollziehen, auch wenn mir die Zeit viel
länger vorkam. Aber die Zeit davor – das können einfach keine vier oder fünf
Wochen gewesen sein. Nie im Leben! Daran müsste ich mich doch erinnern!“
Seit ich zum
ersten Mal ernsthaft über diese angebliche Dauer meines Verschwindens
nachgedacht hatte, machte mich das ganz verrückt. Alle behaupteten, dass ich
fast fünf Wochen weg gewesen war, seit der Guy-Fawkes-Nacht, dem 5. November,
bis über einen Monat später. Erst am 8. Dezember hatten mich Fischer aus der
Nordsee bei Aberdeen gefischt. Nur – wieso konnte ich mich an diesen ganzen
dazwischen liegenden Monat überhaupt nicht erinnern? Obwohl ich mir doch
ziemlich sicher war, fast die gesamte Zeit meiner Entführung bei vollem
Bewusstsein gewesen zu sein? Okay, mal abgesehen von den letzten Momenten im
Wasser, als ich fast ertrunken wäre. Aber das konnten ja schlecht mehrere Tage,
geschweige denn Wochen gewesen sein. Doch ansonsten war ich mir absolut sicher
gewesen, dass von meiner Entführung bis zu dem versuchten Mord an mir höchstens
ein paar Stunden vergangen waren.
Immer und immer
wieder ging ich in Gedanken den Ablauf meiner Entführung durch.
Guy-Fawkes-Nacht, abends: die Typen packen mich. Sie werfen mich in ihren
Beiwagen und hauen
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