Hinter der Nacht (German Edition)
hielt einen
Moment verträumt inne, und vor meinem inneren Auge erschien unwillkürlich das
Gemälde, das ich in seinem Zimmer gesehen hatte. Das Mädchen im Nebel.
„Zunächst
starrte ich sie nur an wie einen Geist. Ich dachte sogar, ich hätte
Wahnvorstellungen. Doch dann erblickte sie mich, und ein strahlendes Lächeln
überzog ihr Gesicht. Ich korrigierte mich: Das konnte kein Geist sein. Nein, es
gab nur eine Erklärung für diese überirdische Erscheinung: Gott
höchstpersönlich musste mir einen Engel geschickt haben, um mich aus meiner
misslichen Lage zu erretten.“
Wieder stockte
er, und auch ich stutzte. Ein Engel. Auch ich kannte einen solchen Engel mit
meerblauen Augen und goldenen Locken. Nur, dass ich ihm (beziehungsweise ihr)
im Wasser begegnet war, nicht im Nebel.
Raphael bemerkte
meine Reaktion nicht. Abwesend fuhr er fort: „Die Fremde sah mich mit ihren
wunderschönen Augen an. Und dann streckte sie mir ohne Worte ihre Hand
entgegen. Wie im Traum ergriff ich sie. Die Berührung war ein Schock. Ein
Energiestoß durchfuhr mich, wie ein Blitz, der von ihr auf mich übersprang. Ich
fuhr zusammen, ließ ihre Hand aber nicht los. Ich konnte es nicht. Es war, als
hätte die Hitze unsere Hände miteinander verschmolzen. Und das fühlte sich
unglaublich gut an. Sie schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, offenbar
genauso erschrocken wie ich. Aber auch sie schien nicht in der Lage, ihre Hand
wieder aus meiner zu lösen. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Irgendwann
gelang es mir, meine Stimme wiederzufinden, und ich fragte sie: „Wer bist du?“
„Ich bin
Claire“, antwortete sie einfach. „Und du?“
„Raphael.“ Dann
besann ich mich auf meine Lage. „Kennst du dich hier aus? Weißt du, wie man
nach Lochmaddy kommt?“
„Lochmaddy?“ Sie
schien meine Frage nicht zu verstehen. „Was ist das?“
„Der Hafenort.
An der Ostküste“, erklärte ich verwirrt. Den musste sie doch kennen. Immerhin
war es auch der einzige Ort hier auf der Insel. „Ich wollte dorthin,
aber ich habe mich verlaufen. Kannst du mir helfen?“
„Oh!“, war
alles, was sie antwortete. Sie warf mir einen rätselhaften Blick zu. Dann
verfiel sie in nachdenkliches Schweigen. Sie benahm sich wirklich etwas
merkwürdig, aber ich klammerte mich an ihre Hand wie ein Ertrinkender, und es
kam mir komischerweise gar nicht seltsam vor, mit einer Fremden mitten in der
Nacht Händchen zu halten.
Schließlich
schüttelte sie bedauernd den Kopf. „Nein, tut mir leid, aber ich kann dir den
Weg nach – Lochmaddy nicht zeigen.“ Vor dem Namen zögerte sie leicht. „Aber der
Nebel lichtet sich morgen früh, und wenn du dann noch etwas wartest, kommt der
Bauer hier vorbei. Er kann dir helfen. Hab keine Angst!“
Erst jetzt, wo
sie es aussprach, merkte ich, dass ich gar keine Angst mehr hatte . Ich
spürte auch die Nässe und Kälte nicht mehr. Ich hatte nur den einen Wunsch,
hier mit ihr zu sein. Alles andere schien mir ganz unwichtig.
„Bleibst du bei
mir heute Nacht?“, rutschte es aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken
konnte, was ich da von ihr verlangte.
Sie schaute mich
lange an. Dann sagte sie: „Das würde ich gerne. Aber du darfst mich nicht
loslassen, sonst kann ich nicht bleiben.“
Dagegen hatte
ich nichts einzuwenden, und so zog ich sie näher zu mir. Sie kam bereitwillig.
Ich zog meine Jacke aus, was in Anbetracht der Umstände nicht ganz einfach war,
und breitete sie dann auf dem Boden aus. Danach zog ich sie mit mir herunter,
und weil es kalt war, kuschelten wir uns aneinander. Unsere Hände fühlten sich
mittlerweile an, als wären sie miteinander verwachsen.
Und so
verbrachten wir die Nacht dort gemeinsam, im Nebel. Es war eine schöne Nacht,
wie verzaubert, die schönste meines Lebens. Und sie kam mir viel länger vor als
nur eine einzige Nacht.“
An dieser Stelle
brach Raphael ab. Ich tauchte wie aus einer anderen Welt auf und warf einen
raschen Blick auf Mike. Er saß da wie vom Donner gerührt und wandte keinen
Blick von seinem Vater. „Und dann?“, fragte er ungeduldig, als Raphael
weiterhin schwieg. „Hast du sie mit nach Lochmaddy genommen?“
„Nein“,
antwortete Raphael. Trauer lag in seiner Stimme. „Irgendwann müssen wir
eingeschlafen sein. Vielleicht habe ich ja im Schlaf ihre Hand losgelassen. Auf
jeden Fall wurde ich wach und sie war weg. Und die Nacht endete, genau wie der
Nebel. Ich traf den Bauern, der mich zurück zur Jugendherberge und dann nach
Lochmaddy
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