Hinter der Nacht (German Edition)
Taschentücher. Offenbar hatte er sich
vorbereitet.
„Bist du sicher,
dass du das schaffst?“, fragte er besorgt.
Ich schüttelte
kläglich den Kopf. Ein Zittern überkam mich bei dem Gedanken, das sichere Auto
verlassen und mich unter meine Mitschüler mischen zu müssen. Er legte mir
seinen Arm um die Schultern und drückte mich an sich. Seine Nähe war tröstlich,
und sie gab mir ein bisschen Kraft zurück.
Nach einigen
Minuten erkundigte er sich vorsichtig: „Und, wie sieht es jetzt aus? Wenn du
doch noch gehen willst, dann sollten wir uns langsam auf den Weg machen. Ich
schätze, du willst nicht unbedingt zu spät kommen, oder?“
Das gab den
Ausschlag. Nein, zu spät kommen wollte ich wirklich nicht. Auch so würde ich
schon genug unangenehme Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Das Mädchen, das
überlebt hat. Und die Freundin des Jungen, der es nicht geschafft hat. Über
mangelnde Aufmerksamkeit würde ich mich mit Sicherheit nicht beklagen können.
Ich riss mich
zusammen, dann nickte ich Mike zu. „Packen wir’s.“ Er drückte mich noch einmal
fest. Dann öffneten wir die Autotüren und betraten Schulgelände.
Es wurde noch
schlimmer, als ich befürchtet hatte. An der morgendlichen Versammlung mogelte
Mike mich noch vorbei, aber dann konnte er mir nicht weiter helfen. Während er
sich auf den Weg zu seiner ersten Stunde machte, blickte ich ihm hinterher,
sicher, dass ich ohne ihn keinen einzigen Schritt schaffen würde. Ich war wie
gelähmt.
„Clarissa, du
schaffst das!“, war sein beschwörender Abschiedsgruß gewesen, wobei er mir tief
in die Augen blickte. Wahrscheinlich wollte er mich hypnotisieren, aber leider
war ich immun dagegen. „Wir sehen uns nachher beim Lunch, okay?“
„Ich glaube
nicht, dass ich Hunger haben werde“, murmelte ich, während meine Augen hektisch
umherhuschten auf der Suche nach bekannten Gesichtern, vor denen ich mich
verstecken musste.
„Gut, dann
treffen wir uns hier wieder, gleich nach der vierten Stunde, okay? Ich beeil
mich und du wartest auf mich! Lauf nicht weg!“ Das war ein Befehl, und ich
nickte nur folgsam. Inzwischen war auch meine Zunge gelähmt. „Halt die Ohren
steif!“, flüsterte er mir noch zu, und mit einem gehauchten Kuss auf die Wange
verschwand er.
Kraftlos lehnte
ich mich an die Wand in einem versteckten Winkel ganz am Rand der
Eingangshalle. Am besten, ich schlich mich gleich wieder raus. Vier Stunden
allein in meinen Kursen würde ich nie überstehen.
„Clarissa! Bist
du das wirklich?“ Ich zuckte zusammen und hätte in dem Moment alles für einen
Tarnumhang gegeben. Aber so gnädig meinte das Schicksal es nicht mit mir.
Stattdessen sah ich ausgerechnet Jenny auf mich zusteuern, mit einer Miene, in
der sich gespieltes Mitgefühl mit echter Sensationslust paarte. Mit
ausgebreiteten Armen stürzte sie sich auf mich und umklammerte mich dann
gnadenlos. „Ach, Clarissa, ich habe mir ja solche Sorgen um dich gemacht! Ich
hab kein Auge zugetan, als ich es gehört habe, das kannst du mir glauben!“
Ich glaubte es
ihr ohne Weiteres. Allerdings bezweifelte ich, dass es wirklich die Sorge um
mich war, die sie wach gehalten hatte. „Das waren furchtbare Wochen.
Alle hier haben gehofft, dass dir nichts Schlimmes passiert ist, aber ich
hatte, ehrlich gesagt, schon fast alle Hoffnung verloren! Und dann tauchst du
plötzlich wieder auf! Ich konnte es kaum glauben, als ich es gehört habe! Und
dass dir nichts passiert ist! Ach, ich bin ja so froh, dass es dir wieder gut
geht!“
Erst jetzt
schien ihr aufzufallen, dass ich die ganze Zeit stocksteif dagestanden hatte
und keinerlei Reaktion zeigte. Endlich nahm sie ihre Hände von mir und trat
einen Schritt zurück. Diesmal enthielt ihre Stimme einen Hauch von
Unsicherheit, als sie fragte: „Es geht dir doch gut, oder? Ich meine, es ist ja
nicht wirklich etwas Schlimmes passiert, oder?“
„Nein, gar
nichts“, gab ich zurück. Eine eisige Kälte kroch in mir hoch. „Nur, dass der
einzige Mensch, für den es sich zu leben lohnt, tot ist. Aber das ist ja fast
nichts, oder?“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging davon. Jenny
starrte mir mit offenem Mund hinterher.
Ich war so
wütend, dass ich ohne zu zögern direkt bis zum Matheraum marschierte und dort,
ohne irgendwen anzuschauen, zu meinem Platz stürmte. Ich registrierte, wie bei
meinem Anblick alle Gespräche schlagartig verstummten, aber meine zornige Miene
hielt jeden erfolgreich davon ab, mich anzusprechen. Ich blickte
Weitere Kostenlose Bücher