Hinter der Nacht (German Edition)
nicht auf,
auch nicht, als Jenny sich auf den Platz neben mir setzte, und auch sie machte
keinerlei Anstalten, unser Gespräch aus der Halle fortzusetzen. Erst als unser
Mathelehrer den Raum betrat, entspannte sich die Atmosphäre ein wenig. Von der
Stunde bekam ich nichts mit außer den vielen verstohlenen Blicken, die ich fast
körperlich spüren konnte. Aber Mr Williams sprach mich kein einziges Mal an,
und als es schellte, stürmte ich im gleichen Laufschritt wie bei meiner Ankunft
wieder aus der Klasse.
Dieses Muster
wiederholte sich auch in den anderen Stunden, nur dass im Laufe des Vormittags
das Getuschel in meiner Nähe deutlich zunahm. Aber keiner sprach mich an, und
ich vermied jeden Blickkontakt, um auch niemanden dazu zu ermutigen. Solange
alle mich wie eine Aussätzige behandelten, konnte ich meine Anwesenheit hier
managen. Aber ich war mir sicher, dass diese Fassade zusammenbrechen und mich
unter ihren Trümmern begraben würde, sobald ich auch nur das kleinste bisschen
echten Kontakt zuließe.
Die einzige
Ausnahme war Mike, der wie versprochen schon auf mich wartete, als ich zur
Mittagspause in die Eingangshalle stürmte. Er verfrachtete mich umgehend in die
abgelegenste Ecke des Schulhofs und harrte dort treu die gesamte Zeit mit mir
aus.
In den nächsten
Tagen entdeckte ich, dass Jenny mir ungewollt einen großen Gefallen getan
hatte. Offensichtlich hatte sie jedem, der es hören wollte – und vermutlich
auch vielen, die es nicht wollten – erzählt, dass ich total unzurechnungsfähig
geworden wäre und anscheinend den Schock noch nicht verkraftet hätte, und so
wagte es nun keiner mehr, mich auf meine „schrecklichen Erlebnisse“
anzusprechen. Alle behandelten mich, als sei ich Luft, und mehr konnte ich
wirklich nicht verlangen. Die allergrößte Erleichterung war dabei, dass sogar
die Lehrer – selbst der unerträgliche McDermott – dieses Spiel mitspielten.
Alle ließen mich in Ruhe, keiner verlangte irgendetwas von mir, und so machte
es am Ende kaum einen Unterschied, ob ich mich zu Hause oder hier aufhielt. Ich
hatte meinen eigenen Schutzwall um mich herum aufgebaut, und ich gedachte
nicht, ihn wieder einzureißen.
Die wirkliche
Zerreißprobe kam allerdings erst zwei Tage später. Erst als ich in meinem
üblichen blinden Stechschritt in den Kursraum gestürmt war und meinen Tisch
ansteuerte, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Geschichte. Unser Tisch.
An dem ich jetzt allein saß. Und der Platz neben mir würde leer bleiben.
Am liebsten wäre
ich sofort umgedreht, aber angesichts der vielen nur vordergründig abgewandten
Gesichter war das unmöglich. Jeder hätte mich sofort durchschaut. Meine Tarnung
wäre zunichte gewesen.
Ich setzte mich,
aber es verbrauchte all meine Kraft. Der leere Stuhl neben mir wirkte wie ein
schwarzes Loch auf mich, das mich immer stärker anzog. Ich umklammerte die
Tischkante mit aller Kraft und blieb die ganze Stunde lang unbeweglich und
stocksteif auf meinem Platz sitzen.
Am Donnerstag
schwänzte ich Geschichte. Meine Kraft reichte einfach nicht aus, um noch einen
Tag ohne ihn zu verbringen. Und dabei ununterbrochen an ihn zu denken. Jede
einzelne Sekunde.
Mike erwartete
mich nach der sechsten Stunde wie immer in unserer üblichen Ecke. Aber zu
meiner Überraschung steuerte er diesmal nicht unverzüglich den Ausgang an, als
er mich erblickte.
„Ist was? Hast
du noch was zu erledigen?“
Er zögerte. „Es
ist nur – also, ich habe gedacht…“ Sein Stottern machte mich sofort nervös.
„Was denn?“
„Ach, nichts. –
Oder…“ Endlich rang er sich durch. „Also - heute ist doch Karate.“
„Oh nein.“ Ich
merkte, wie mir das Blut in die Füße sackte.
Mike sah es
auch, denn er machte sofort einen Rückzieher. „Schon gut, war nur so eine Idee.
War blöd. Vergiss es.“
„Nein“,
entgegnete ich tapfer, „geh ruhig. Aber ich – ich pack das nicht. Nicht, wenn
er…“ Ich brach ab, aber mehr war auch nicht nötig. Mike verstand.
„Komm, ich bring
dich nach Hause.“
Ich widersprach
ihm nicht. Zwar kam es mir mies vor, ihn vom Training abzuhalten, aber der
Heimweg allein oder gar die Alternative – auch zum Training zu gehen – erschien
mir wie ein unüberwindbares Hindernis.
Von außen
betrachtet, kehrte trotz allem langsam wieder Normalität ein. Ich ging Tag für
Tag zur Schule, und allmählich begannen die Mutigsten vereinzelt, auch wieder
ein Wort an mich zu richten. Nichts Persönliches, und auch nur, wenn
Weitere Kostenlose Bücher