Hinter der Nacht (German Edition)
ballte meine Hände so zu Fäusten, dass
ich spürte, wie meine Fingernägel mir in den Handballen schnitten. „Ich darfdas nicht akzeptieren! Ich kannnicht.“ Meine Stimme wurde immer
heiserer, während mir Tränen in die Augen schossen. „Ich will nicht, dass er
tot ist. Das ist nicht fair!“
„Das Leben ist
nicht fair“, erwiderte Mike leise.
Das war zu viel.
Ich riss die Tür auf und sprang aus dem Panda auf den Bürgersteig. Dann beugte
ich mich wieder runter in die Türöffnung und schrie weiter: „Aber dukönntest
es ändern! Wenn du es nur richtig wolltest! Dir fehlt einfach der Glaube!“
„Der Glaube?“
Allmählich verlor auch Mike die Ruhe. Er öffnete die Tür und folgte mir. Dann
kam er um den Wagen herum auf mich zu.
Schnell trat ich
einige Schritte zurück und hob abwehrend die Hände.
Mike blieb
stehen. „Ja, allerdings, mir fehlt der Glaube.“ Seine Stimme wurde lauter, und
er machte einen weiteren Schritt auf mich zu. „Es stimmt, ich glaube nicht
daran, dass ich in der Lage bin, mich unsichtbar zu machen. Oder sonst
irgendein Scheiß. Trotzdem habe ich dich machen lassen und wo es geht
unterstützt. Aber irgendwann muss es dann auch gut sein! Du bist ja schon
völlig besessen! Wach endlich auf! Sonst drehst du noch total durch!“ Er trat
wieder einen Schritt näher und wollte mir die Hände auf die Schultern legen.
Da sah ich rot.
„Ich dreh durch? Du glaubst also, ich bin verrückt? Dann hau doch ab! Ich komm
schon allein zurecht! Das musste ich ja sowieso immer! Ich brauche dich nicht!
Lass mich einfach in Ruhe!“ Tränenblind drehte ich mich auf dem Absatz um und
rannte davon.
Das nächste, was
ich hörte, war ein ohrenbetäubendes Hupen. Als ich geschockt die Augen aufriss,
sah ich einen riesigen LKW direkt vor mir, höchstens noch einen Meter entfernt.
Offenbar war ich in meiner Wut mitten auf die dicht befahrene Straße gerannt.
Wie in Zeitlupe
sah ich, wie der Laster sich unaufhaltsam auf mich zu bewegte. Jedes Detail
brannte sich in mein Gehirn ein – die entsetzt geweiteten Augen des Fahrers,
sein unhörbarer Schrei, das dröhnende Signalhorn, die massive Motorhaube, die
sich vor mir auftürmte wie eine stahlharte Wand. Ich war wie gelähmt in
Anbetracht des nahenden Todes. Für eine Reaktion war es eindeutig zu spät, das
war mir klar. Diesmal würde kein Engel auftauchen und mich retten.
Doch während ich
all diese Einzelheiten seltsam unbeteiligt registrierte, packte mich auf einmal
etwas von hinten, und ich wurde mit einem Riesensatz rückwärts durch die Luft
gezogen. Es fühlte sich an, als würde ich durch einen gewaltigen Staubsauger
gesaugt. Die Luft zischte nur so um meine Ohren.
Dann, genau so
plötzlich, wie es begonnen hatte, war auf einmal alles wieder totenstill um
mich herum. Ich stand stocksteif an genau der Stelle auf dem Bürgersteig, von
der aus ich vorhin noch Mike angeschrien hatte. Nur, dass er mir jetzt nicht
gegenüber stand, sondern direkt neben mir meinen Arm gepackt hielt und genauso
schockgefroren aussah, wie ich mich fühlte.
In diesem Moment
raste auf einmal etwas Großes, Lautes auf der Straße neben uns heran.
Automatisch folgte mein Blick dem Geräusch. Es war der Truck, der mich soeben
um ein Haar überfahren hätte. Ich erkannte ihn ganz genau wieder. Jedes Detail
stimmte.
Aber das konnte
nicht sein. Der Laster, der mich fast überfahren hätte – der mich hätte
überfahren müssen - musste ja schon längst in die andere Richtung
verschwunden sein. Rasch suchten meine Augen den Fahrer – kein Zweifel, es war
derselbe. Nur blickte er diesmal nicht völlig entsetzt auf die Verrückte, die
direkt vor ihm auf der Fahrbahn stand, sondern erwiderte meinen Blick im
Vorbeifahren mit gelangweilter Miene.
Während ich
verzweifelt versuchte, zu verstehen, was gerade geschehen war, riss Mike mich
auf einmal ohne Vorwarnung in seine Arme und drückte mich so fest an sich, dass
ich keine Luft mehr bekam.
„Oh, Clarissa!
Es tut mir leid! Es tut mir leid! Ich wollte das nicht! Bitte, bitte, mach so
was nie wieder!“, stammelte er unzusammenhängend. Erschüttert stellte ich fest,
dass seine Schultern bebten.
„Mike! Du
erdrückst mich! Ich krieg keine Luft mehr!“, keuchte ich.
„Oh, sorry!
Sorry!“ Er lockerte seinen Griff um wenige Millimeter.
„Was ist denn
eigentlich passiert? Ich dachte – ich dachte…“ Auf einmal merkte ich, wie meine
Beine anfingen, zu zittern. Erst jetzt setzte der Schock langsam ein.
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